Timor. Warum musste es
ausgerechnet Timor sein? Vielleicht weil die Insel so weit entfernt von
Deutschland lag, sodass sie meine Vorstellungen von Exotik überstieg. Timor repräsentierte
für mich die Fremde an sich. Fast schon Südsee. Ich wollte fort aus den engen
Städten mit ihren Vorschriften und Regeln. Ausbrechen aus der Kreativität und
Lebendigkeit erstickenden Routine des universitären Alltags. Ich wollte
anders sein und anders leben. Mir selbst fremd werden und mich in der Fremde wiederfinden. Anders sein als in den Jahren theoretischer Wissenschaft. Ich wollte dorthin, wo das Wissen zu finden ist. Mit Haut und Haar eintauchen in die ethnologische Praxis.
Indonesien faszinierte mich
seit vielen Jahren, seit ich ein paar junge Niederländer, Rückkehrer aus
Südostasien, braun gebrannt und exotisch gekleidet, bewunderte Hippies, auf
einen Passagierschiff traf, das von Thessaloniki nach Kreta fuhr. Und seit mich
die Fiktionen von Karl May, ich war noch fast ein Kind, in seine geheimnisvollen Kulturen nach Übersee mitgenommen hatten. Fiktion, nichts als Fiktionen, doch aufgeladen mit Assoziationen und Imaginationen, die meine Fantasie weckten und Sehnsüchte zur Welt brachten. Immer wieder schreiben Gefühle dem Verstand die Richtung vor. Nicht nur damals, als ich noch jung war. Irgendwie so ähnlich muss es gewesen sein. Wäre ich sonst Ethnologe geworden.
Ich war nicht das erst Mal in Indonesien, wohl aber in Timor. Bereits mehrmals bin ich durch den Westen des Archipels gereist. Jetzt zog mich der mir unbekannte Osten an. Ich dachte an unverfälschte Traditionen, an authentische Lebenszyklusrituale, an Bräuche und Gewohnheiten fernab globalisierter Eindimensionalität. Ich dachte exotisch, und machte mir die Exotik zu Beruf; an die südliche Halbkugel, an Abenteuer unter dem Kreuz des Südens. Allein diese Namen klangen mir magisch in den Ohren. Sie füllten meine Träume. Mental war ich längst auf den Spuren von Joseph Conrad und Robert Louis Stevenson. Tag und Nacht. Später dann bei Hubert Fichte, Michel Leiris, Patrick Leigh Fermor, Bruce Chatwin, Paul Theroux und all den anderen Reisenden, denen die Fremde mehr gab, als eine Heimat, die ihnen die Luft nahm. Schließlich wurde ich ernsthafter, realistischer und Ethnologe. Meine Träume hatten mich nicht verlassen. Warum also länger warten? Mein Studium der Ethnologie hatte ich beendet. Was lag da näher als Ethnologe zu sein. In den fremden Kulturen, von denen ich auch während des Studiums immer wieder gelesen hatte, endlich zu leben. Nicht nur zu reisen, sondern zu bleiben. Den Menschen zu begegnen, ihren Alltag mitzuerleben und ihre Gedanken und Gefühle zu teilen. Soweit das überhaupt möglich ist.
Es war in den 1970ern. Timor verdankte ich einem Zufall. Einem kleinen Absatz in einem Museumskatalog über indonesische Textilien, fast zu unbedeutend, um wirklich beachtet zu werden. Im Westen des Archipels waren mir besonders Bali und Java vertraut. Der dort von Jahr zu Jahr expandierende Tourismus störte mich seit langem, verdarb mein Bedürfnis nach kultureller Authentizität. Einige Monate später lag ich am Strand von Koh Samui in Thailand, selbst Tourist, und ließ es mir unter der heißen, tropischen Sonne gut gehen. Genoss all die tropische Vielfalt und die Lebendigkeit, die mich das graue Deutschland vergessen ließen: die unbeschwert wirkenden Menschen, die feuchte Hitze, die exotischen Früchte und Landschaften, und die prickelnde Fremdheit um mich herum, die ich mit dem heißen Wind einatmete. Ich spürte, wie sich meine Muskeln durch die natürliche Freundlichkeit, mit der man mir überall entgegenkam, lockerten, wie mir das Klima schmeichelte und ich mich entspannt all dem Neuen um mich herum voll Neugier und Staunen hingeben konnte. Ich war wieder einmal unterwegs nach Bali und faulenzte auf dieser thailändischen Insel in der Sonne. Der Flughafen war noch nicht gebaut, die Unterkünfte zu bescheiden für Touristen, die auf die Annehmlichkeiten der Heimat nicht verzichten wollten. Inzwischen sind alle in Südostasien, und zu erleben gibt es dort nicht mehr viel. Jedenfalls nicht für mich. Ich suchte nach einem Ziel und nach Plänen für die nächsten Jahre. Auf dem Rücken im warmen Wasser liegend sah ich den Wolken zu und dachte an gewebte Muster. Und an die Textilien aus Indonesien, die ich vor einigen Wochen in dieser Ausstellung in Köln bewundert hatte. Ich erinnerte mich an Timor, an die lückenhaften Kenntnisse über die Funktion und Motive der Tracht dieser Insel. Spontan beschloss ich, nach Timor zu reisen, dort zu leben, zu arbeiten und Land und Leute kennenzulernen. Viel mehr braucht es manchmal nicht für eine Entscheidung, nach der das Leben nicht mehr das gleiche ist.
Drei Monate später war ich wieder in Deutschland und bereitete in den kommenden Wochen meinen Aufenthalt in Timor vor. Die zu bewältigenden bürokratischen Hindernisse waren erheblich. Freunde halfen mir weiter. Telefonate und Briefe mit Jakarta und Kupang führten zu ersten Kontakten. Behörden hinderten mich, prüften mich und unterstützten schließlich mein Forschungsprojekt. Ich hatte es geschafft. Schwieriger als ich dachte, war es dann, Deutschland, die Freunde und Vertrautheiten hinter mir zu lassen. Ich kündigte meine Arbeit, die Wohnung und zelebrierte einen wochenlangen Abschied. Als ich am Beginn des deutschen Winters mit meiner jungen Familie unter das Kreuz des Südens aufbrach, war ich offen für Neues und frei zu gehen, wohin es mich zog. Ich brach in ein unbekanntes Land auf, ging auf fremden Pfaden in ein fernes Land, in dem die Menschen farbenprächtige Kleider trugen, mich zum Betel essen verführten und mir in Versen von ihrer Vergangenheit erzählten. Ich war unterwegs zu Menschen, die zwischen den Zeiten lebten, die in mehreren Identitäten zuhause waren, traditionell bleiben wollten und modern sein mussten, um im westlich geprägten Indonesien nicht noch mehr an den Rand gedrängt zu werden, als sie es geographisch ohnehin waren. Ich war unterwegs in eine Kultur, die vor noch nicht allzu langer Zeit nichts ahnte von Humanismus und Demokratie. Eine Kultur, die verzweifelt versuchte, ihre ethnische Identität zu retten. Um beinahe jeden Preis. Ich brach auf, die Söhne und Töchter von Kopfjägern zu treffen, fasziniert von Berichten über deren Kultur, die für mich alles bis dahin Gewesene in den Schatten stellten.
Im indonesischen Westtimor
leben fast zwei Millionen Einwohner auf etwas mehr als sechzehntausend Quadratkilometern. Das ist eine Fläche so groß wie Hessen. Verlässliche
Zensusdaten liegen für die Bevölkerung Westtimors nicht vor. Eine zuletzt in
Timor Tengah Selatan, Südzentraltimor, durchgeführte Volkszählung der Jahre
1989 und 1990 beziffert die drei Landkreise Südzentraltimors: Amanuban
(194.905), Amanatun (74.463) Molo (63.188). Nach einem Zensus aus dem Jahr 2010
leben in Südzentraltimor mittlerweile 440.470 Menschen.
Die Niederländer nannten die indigene Bevölkerung
Westtimors zuerst Dawan. Das bedeutet Hinterwälder; verletzend, diskriminierend, am wenigsten peinlich. Als würde man einen Afrikaner "Neger" nennen. Später nannte man sie vereinfacht Atoni, Mann oder Mensch. Sie selbst nennen sich Atoni Pah Meto, die Menschen des trockenen Landes. Oder
metastasiert Atoin
Meto; manchmal nur Meto, die Indigenen. Immer liegt der Fokus ihrer
Selbstbezeichnung auf dem Landschaftstyp, in dem sie leben: der Savanne, dem
trockenen Land. Sie waren nicht immer Einheimische im Westen der Insel.
Jahrhundertelang zogen sie westwärts, von Sonnenaufgang kommend, immer auf der
Suche nach dem weiten Land und dem freien Raum, wie es in ihren mündlichen
Dichtungen heißt. Von dieser Migration handelt ihre regionale Geschichte, ihren
in Tonis, in ritueller Rede, verfassten epischen Dichtungen.
Die kleinen Sundainseln
bilden den Osten Nusantaras, des indonesischen Archipels. Nusa Tenggara Timur,
kurz NTT, Ostindonesien. Gebräuchliche Namen für eine Landschaft aus Land und
Meer, für eine weitgehend homogene Kulturprovinz.
Westtimor verdankt einer äußerst bewegten, erdgeschichtlichen
Vergangenheit sein heutiges Aussehen, dessen besonderes Kennzeichen große
Höhenunterschiede innerhalb kurzer Entfernungen sind. Mehr als sechzig Prozent
der Oberfläche Westtimors bestehen aus weitgehend zerklüfteten
Mittelgebirgslandschaften. Zahlreiche große und kleine Flüsse, die tiefe,
V-förmige Täler in die gebirgige Landschaft gegraben haben, entwässern das zentrale
Bergland und die Hochebenen, sodass enge Schluchten in der gebirgigen Landschaft
entstanden sind. Die Insel Timor erhebt sich als Bergkette auf dem äußeren Rand
des Bandabogens. Die von engen Tälern gegliederten Bergzüge durchziehen die Insel
von Südwesten nach Nordosten. Die Insel erhob sich erst in den letzten vier
Millionen Jahren aus dem Meer. Geologisch ist Timor eine sehr junge, heute
geteilte Insel, ohne den für Indonesien charakteristischen Vulkanismus, der die für den indonesischen und philippinischen Archipel charakteristischen Vulkane fehlen. Wen wundert es, dass man sich erzählt, die Insel sei einst
ein Krokodil gewesen. Dieses Landschaftsbild verursachte isolierte
Bevölkerungen mit eigenen Sprachen und Kulturen. Politisch ist Timor eine geteilte Insel, der
Westen gehört zu Indonesien, der Osten, 1974 von Portugal in die Unabhängigkeit
entlassen und Jahrzehnte von Indonesien mit einem imperialistischen Krieg
überzogen, ist seit 2002 ein unabhängiger demokratischer Staat: Timor-Leste.
Das Klima ist tropisch, heiß und schwül. Weht der Ostmonsun
zwischen Mai und November herrscht anhaltende Dürre. Der Regen bleibt aus, und
die Luftfeuchtigkeit sinkt. Die Temperatur steigt tagsüber auf über dreißig
Grad. In den Bergen ist es deutlich kühler und angenehmer. Besonders für
Europäer. Dort sinkt die Temperatur nachts auf fünfzehn Grad. Am Ende der
Regenzeit ist die Landschaft braun und ausgedörrt, der Boden hart und rissig.
Die Vegetation vertrocknet und nur Palmen und einige Bäume stehen vereinzelt
oder in kleineren Gruppen in einer parkartigen Savannenlandschaft. Für die
Atoin Meto ist die Zeit der Wanderungen, Feste und sozialen Kontakte gekommen.
Die Regenzeit von Ende November bis April ist die Phase des
landwirtschaftlichen Zyklus: Pflanzzeit. Wenn erst die Ernte eingebracht ist, gibt es genügend Nahrung, um Gäste zu bewirten, um gemeinsam zu feiern und die Rituale des Lebenszyklus zu begehen. Der Rhythmus der jährlichen Schwankungen der nassen und trockenen Jahreszeit bestimmt und reguliert die Gesamtheit des Lebens in den Siedlungen. Die Atoin Meto betreiben Subsistenzwirtschaft und hängen existenziell von ihren Haus- und Feldgärten ab, in denen sie hauptsächlich Mais, Bohnen und verschiedene Gemüsesorten kultivieren. Die Hausgärten und Brandrodungsfelder werden oft an steilen Hängen bewirtschaftet. Die heftigen Wolkenbrüche füllen
die trockenen Flussbetten in Minuten und verwandeln sie in reißende Ströme, die
Erde und Geröll mit sich reißen und Straßen unterspülen. Die Regenzeit ist eine Zeit der Überschwemmungen. Während das Regenwasser von den wenigen asphaltierten Hauptstraßen in die seitlichen Gräben fließt, verwandeln sich die unbefestigten Wege in munter sprudelnde, abwärts fließende Bäche oder in lehmige, rutschige Pfade, die von Rinnen und Schlaglöchern übersät sind. Oe lanan, sagt man, Wege aus Wasser. Asphaltiert sind nur die Straßen, die die wenigen Städte miteinander verbinden: Kupang, Soë, Niki Niki, Kefamenanu und weiter nach Atambua und Dili. Regenzeit ist keine Reisezeit. Man muss schon Atoin Meto sein, um ohne Stürze, die rote, lehmige Flecken auf der Kleidung
hinterlassen, in die talwärts gelegenen Weiler zu kommen.
Die Atoin Meto bilden die dominierende Bevölkerung
Westtimors, eine bäuerliche Mittelgebirgspopulation, die das ganze zentrale
Bergland besiedelt, ein Gebiet, das sie Pah Meto nennen,
das trockene Land. Die Bevölkerung lebt in zehn Territorien mit informeller
politischer Infrastruktur, die parallel zur indonesischen Administration weiter
besteht. Ihr Alltagsleben orientiert sich an der Struktur der sozialen und
politischen Beziehungen einflussreicher Klangruppen. Diese Namengruppen
heißen kanaf und evozieren ein Wir-Gefühl sozialer und politischer Identität: Wir sind ein Name! Die
Mehrheit der Bevölkerung lebt in lokalisierten Weilern, dem kuan. Regional eng verbundene Weiler wurden von der
indonesischen Administration zu großflächigen Dörfern (desa) zusammengefasst, eine strukturelle
Ebene, die für die intraethnisch geographische und historische Klassifikation
unerheblich ist.
In ihren Weilern bilden kooperative, patrilinear
verwandte Haushalte, die ume heißen, den Fokus
der ökonomischen, sozialen und rituellen Aktivitäten. Sind diese Aktivitäten
übergeordneter Natur, so sind Namengruppen die durchführende Gemeinschaft.
Jeder Atoin Meto ist Mitglied einer patrilinearen und exogamen Namengruppen, die
sich auf ein definiertes Territorium bezieht. Auf ihre Heimat, das Land und den
See, pah ma nifu, das aus einer Vielzahl von
benannten Orten besteht. Die Geschichte dieser Orte reicht bis in den
unmittelbaren Alltag der Atoin Meto und erinnert sie an längst vergangene
Ereignisse, die den Namengruppen Bestand und Identität verleihen.
Damals, als das alles geschah, dachte ich natürlich nicht an später, in jenen Tagen, als ich noch jung und enthusiastisch war, als das Erleben oft wichtiger war als das Verstehen. Diese Jahre und die Menschen, denen ich begegnet bin, ziehen an meinem inneren Auge vorüber. Sie sind zu Repräsentationen geworden, doch alles andere als flüchtige Schatten auf der Bühne meiner Erinnerung. Sie sind reale Protagonisten gelebten Lebens.
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