Samstag, 24. August 2019

Amanuban und ich


Es ist Jahrzehnte her. Immer häufiger tauchen Gedanken an jene Zeit wie flüchtige Schatten auf einer Leinwand auf. Wer inszeniert dieses Schattenspiel, entwirft die Figuren, schreibt das Skript? Auf ihrer Jenseitsreise bringen Helden an der Pforte zur Unterwelt Blutopfer dar, wenige Tropfen nur, aber sie reichen aus, ihre Rückkehr zu sichern. Was ist wichtig? Was kostet es mich, in meine Erinnerungen zu tauchen, um Vergangenes sichtbar zu machen? Zuerst sehe ich nur Fragmente meiner Jahre in Amanuban. Während des Schreibens füllen sich allmählich die Lücken. Einst Erlebtes wird zum konkreten Bild. Persönliche Mythen mischen sich mit realer Biographie. Zwischen die Zeilen gestreute Zeit. Inzwischen glaube ich selbst an meine eigenen Legenden, wie ein Kind, an die Möglichkeit ferner Welten. Die Seele ist ein weites Land, in das die Träume fliehen. Verstaubte Notizen in Tagebüchern und Zettelkästen fließen in die Seiten, wo sie sich im Licht der Wirklichkeit vermischen. Viele Jahre später.

Timor ist ein fremdes Land; Amanuban eine unvollständig ausgeführte Skizze. Zuerst nur geträumt, später bereist und entdeckt. Heute besiedeln mich Erinnerungen an glückliche und zufriedene Menschen, an ihren entbehrungsreichen Alltag, an ihre Feste und Rituale. Traum und Erinnerung gehen in einander über. Reales und Fiktives verbindet sich im Strudel von Erlebnis und Begegnung. In Amanuban begegne ich Männern, deren Väter Kopfjäger waren, noch unentschieden zwischen Tradition und Moderne. Männer, deren Äußeres, deren Denken und Fühlen, mir so fremd ist, dass ich ihre Freundschaft gewinnen will. Ich verstehe sie so gut es geht, planetenweit voneinander entfernt, doch in die gemeinsame Situation der Begegnung verstrickt. Ich, ein Nachkomme von Handwerkern und Kaufleuten, Kriegsvertriebenen, entwurzelt, heimatlos. Sie Bauern, Schauspieler und Redner, fast ihrer Kultur entfremdet, unermüdlich darin, sie zu inszenieren: Wir alle waren Wanderer, Reisende, Nomaden in Amanubans Savannen, bemüht unseren angestammten Platz zu finden und zu behaupten. Wir alle waren auf der Suche nach Nischen individuellen, ethnischen und kulturellen Überlebens. Worin unterscheiden wir uns eigentlich? Ich erinnere mich an Männer, die konsequent ihre Rolle auf der Bühne eines unaufhaltsamen kulturellen Wandels spielten. Keiner von ihnen erntet mehr Köpfe, obwohl sie oft und gerne mit den Großtaten ihrer Väter und Großväter für die Gemeinschaft prahlen. Ihre eigene Besonderheit betonen sie gern. Jeder von ihnen folgt seinen Träumen. Darin sind sie mir vertraut und verwandt. Am meisten hat mich ihre Wirklichkeit und Authentizität beeindruckt, die ich zu Beginn vorbehaltlos bewundert habe. Bis ich sie besser verstand und nicht mehr idealisieren musste. In ihrer Klarheit und Offenheit, in ihrem Selbstvertrauen sind sie Männer, die Respekt, Höflichkeit und Freundlichkeit leben, verdienen und erwarten. Der Ethnologe in mir hat mit dem malinowskischen Mythos lange gebrochen. Ich habe noch nie wirklich an die Objektivität einer westlichen Wissenschaft geglaubt, die meint, sich als Beobachter aus der Darstellung des Beobachteten heraushalten zu können. Deshalb präsentiere ich die Bedingungen meiner Feldforschung und den Entstehungszusammenhang meiner Daten offen und ungeschminkt. Rücksichtslos und selbstbestimmt ordne ich mich keiner wissenschaftlichen Doktrin unter. Nach Amanuban bin ich gekommen, um die Tracht der Atoin Meto zu studieren, ein weibliches Prestigesystem mannigfaltiger Formen und Bedeutungen. Indonesische Textlien waren in den 1980er Jahren in Europa en vogue und ich wollte einen eigenen Beitrag leisten, mit einer Region deren Textilien verbreitet, deren Form und Gestaltung aber relativ unbekannt waren. Den Männer, mit denen ich in Amanuban zusammenarbeitete, gefiel das nicht. Ein Mann sitzt nicht mit Frauen am Webgerät, beschwerten sie sich immer wieder. Schließlich zogen mich auf ihre Seite und präsentierten mir ihr eigenes Prestigesystem: die Komposition mündlicher Dichtungen, die von ihrer regionalen und Migrationsgeschichte erzählten, und die sie in den Ritualen der Landwirtschaft und des Lebenszyklus aus dem Stegreif vortrugen. Nonverbale versus verbale Kommunikation, Atrium und Forum, weibliche und männliche künstlerische Ausdrucksweisen, vielfach in Ritual und Alltag mit einander verwoben. Ich schreibe meine eigene Ethnographie. Mich kümmert es nicht, ob andere sie später loben oder verwerfen. Mir liegt an Ehrlichkeit, nicht an Selbstdarstellung, nicht am vorübergehenden Applaus des Auditoriums, der wissenschaftlichen Gemeinde, deren Gerede oft am nächsten Tag bereits Makulatur ist. Mein Thema sind die Anderen, die mir in Amanuban begegnet sind, die mich in ihr Leben aufnahmen. Ich will, dass sie so gesehen werden, wie sie mir begegnet sind, und wie ich sie geliebt habe. Ich reflektiere mich im Erzählen über sie, versuche nicht, was letztlich fruchtlos bleibt, das Subjektive aus dem Intersubjektiven heraus zu präparieren, mich selbst totschweigen und vorspiegeln, das nicht geschehen ist, was nicht gewesen sein darf. Beobachter sein, selbst beobachtet zu werden, was ich bemerkt habe. Teilnehmer sein, mit ganzem Herzen teil zu nehmen. Ich habe mich beteiligt und die Vernunft im emotionalen Dialog der Begegnung losgelassen. So lautet mein Credo: Mir ist daran gelegen, mich einzumischen und mich einzulassen. Mich nicht hinter Regeln und Erwartungen zu verstecken und letztlich aufzugeben. Wem nutzt die dürre Wissenschaft positivistischer Theorien und empirischer Daten, wenn sie Gefühl, Intuition und Imagination, der Subjektivität des affektiven Betroffenseins, keinen Raum einräumt. Sollen andere der Illusion verfallen, es gäbe ein richtiges Leben im falschen. Ich kann die Kultur der Atoin Meto nicht beschreiben, als sei sie ein statisches Objekt in einem Labor. Ich würde meine Freunde verraten.

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