Dienstag, 3. September 2019

In Kupang


Denpasar, Bali. Der Flughafen heiß I Gusti Ngurah Rai, nach dem Nationalhelden Ngurah Rai. Der Name des Flughafens erinnert an einen adeligen Befreiungskämpfer, einen Gusti, der den Niederländern die Stirn geboten hat. Noch war Timor nur eine Idee. Abflug von Denpasar nach Kupang. Gemischte Gefühle, die nächste Etappe meiner Forschungsreise ins Innere einer unkalkulierbaren Fremde. Eine Reise ins Ungewisse, von der meine balinesischen Freunde vermuteten, sie koste mich das Leben. Kopfjäger, sagen sie, und ich kann in ihrem Mienenspiel nicht lesen, ob sie scherzen oder es ernst meinen. Zuerst Kupang. Ich habe keine Ahnung, wo sonst in Timor. Start oder Wende? Ich besitze keine Vorstellung von dem, was mich erwartet. Ich weiß nicht, wo ich leben werde, welche Kontakte ich mache, wie und wo ich Daten sammeln kann. Über das Wie denke ich erst gar nicht nach. Kupang wird mein Einstieg. Irgendetwas wird sich ereignen, ich hoffe, es wird das Richtige sein. Ich besitze weder Ortskenntnisse, noch kenne ich jemanden im indonesischen Westtimor, der geteilten Insel, so groß wie ein Bundesland. Was ein Leben in einem geteilten Land bedeutet, das weiß ich schon. Mitgebracht habe ich Angelesenes. Wer weiß wie Verstaubtes. Viel Neues gibt es nicht. Eine Theorie ohne Praxis. Mit Wünschen und Erwartungen überladen. Und mit Hoffnungen befrachtet. Was weiß ich, wie man eine ethnologische Forschung durchführt. Reden lässt sich viel. Aber handeln. Forschen. Sogar Teilnehmen! Beobachten! Lässt sich wirklich beobachten, ohne teilzunehmen? Oder teilnehmen und gleichzeitig beobachten? Wie gewinnt man aus der Metaperspektive das Leben realer Menschen? Wie spalte ich mein Ich in der Parallelität der beiden Rollen? Mir platzt der Kopf von diesen Widersprüchen und Paradoxien, während ich mich durch die Fallstricke einer fremden Sprache navigiere. Ich antizipiere Monate von Versuch und Irrtum. Kommt dann der Durchbruch auf die andere, die fremde Seite? Ins Herz einer fremden Kultur. Wann bin ich akkulturiert? Kein Fremder mehr, irgendwie eine Art Kulturteilnehmer, hoffentlich ein Kulturversteher. Auf jeden Fall irgendwo in Westtimor, wo die Atoin Meto leben, deren Kultur mir nicht mehr aus dem Kopf geht, seit ich Anfang der 1980er Jahre historische Schwarzweißfotografien von ihnen im Museum für Völkerkunde in Basel gesehen habe. Alfred Bühler hat sie in den 1930er Jahren aus Westtimor mitgebracht. Seitdem liegen sie ordentlich archiviert im Museumsmagazin. Exotische Wilde in einer weiten Savanne, fernab westlicher Kultur, eigentlich ihr Gegenteil, soweit ich in meiner Schwärmerei damals sehen konnte. Protagonisten eines Romans von Friedrich Gerstäcker oder Karl May. Abenteurer auf fremden Pfaden. Gekräuselte Haare, die auf dem Hinterkopf in einem Knoten enden. Nackte Oberkörper, um die Hüften ein gemustertes, wadenlanges Umschlagtuch. Barfuß. Eine antike Flinte, locker gehalten über ihrer Schulter. Heute weiß ich nicht mehr, ob solche Männer in meinen Träumen vorkamen. Damals, als ich noch jung war, und nicht wusste, dass es nicht selbstverständlich ist, Träume zu verwirklichen. Inzwischen bin ich erwachsen geworden, und weiß, dass wir unser Leben unseren Träumen schulden. Forscher und Wissenschaftler. Meine Träume von einst haben das alles überlebt.

Anderthalb Stunden später landet die kleine Merpatimachine auf dem El Tari Airport in Kupang, an der Südwestspitze Westtimors. Ich bin angekommen. Es hört gerade auf zu regnen. Schnell wird es schwül und heiß. Außer mir steigen in Kupang nur noch drei oder vier andere Passagiere aus. Die meisten in der ausgebuchten Maschine fliegen weiter nach Dili. Nach Osttimor, das in jenen Tagen noch ein von indonesischen Truppen besetztes Land ist, das hartnäckig um seine Unabhängigkeit kämpft. Mich erstaunt, dass die meisten der Indonesier nach Ostimor wollen, in eine konflikthafte Nachbarschaft, anstatt nach Kupang; wirken doch die meisten von ihnen wie Kaufleute und Regierungs- und Kirchenleute, wie Lehrer oder Katecheten. El Tari. Ein kleiner Flughafen, ein Dutzend Kilometer außerhalb der Stadt auf einer Anhöhe in der Nähe von Penfui gelegen. Die Ankunftshalle ist kaum mehr als ein Bungalow, Nebengebäude gibt es kaum, nur die kleine Rollbahn, die sich im Gelände verliert. Ein Flughafen zweiter Klasse am östlichen Ende Nusantaras. Träger für das Gepäck, die niemand braucht, drängen sich erfolglos auf. Einige Taxi-Fahrer warten auf Passagiere, offerieren die einzige Verbindung hinunter nach Kupang-Stadt. Das Flughafenpersonal erledigt die Gepäckabfertigung ohne großes Interesse, langatmig und umständlich. Handarbeit, keine automatischen Förderbänder. Jeder Coupon meines Gepäcks wird mehrfach verglichen und kontrolliert. Die preußische Ordnung der indonesischen Bürokratie zupft sacht an meinen exotischen Vorstellungen. Erst dann händigt mir das Flughafenpersonal mein Gepäck aus. Die quälend langsame Abfertigung steigert meine Nervosität, die ich in Bali zurücklassen wollte. Den Gepäckträger, der mich als seine Beute ausgemacht hat, und mich lauernd umkreist, stürzt sich sofort auf mein freigegebenes Gepäck, bevor mir die kleinste Chance bleibt, es selbst nehmen. Er hängt mit seinen Augen an mir wie eine Klette. Ich werde ihn erst los, als er mein Gepäck erobert hat und damit triumphierend auf eins der Taxis zusteuert. Ich bin sein einziger Job an diesem Tag. Seine Arbeit, sein Tagesverdienst.
Nass geschwitzt, das Hemd am Rücken klebend, sitze ich endlich frierend in der gekühlten Luft eines Taxis und bin unterwegs ans heiß ersehnte Ziel. Nach Oesapa, an den Stadtrand von Kupang, wo Bäume und Büsche den Blick aufs Meer versperren. Hotelwahl auf die Schnelle. Die Fahrt führt über nasse, schmale Asphaltstraßen hinab nach Oesapa. Links und rechts die offene, gras- und buschbewachsene Savanne, die sich die kargen Hügel ins Hinterland hinauf erstreckt. Eine trockene und steinige Landschaft. Nur wenige Bäume und ein spärlicher Buschbestand breiten sich unter dem wolkenverhangenen Himmel aus.
„Der fünfte Regen in diesem Monat!“, erzählt mir der Taxifahrer in gebrochenem Englisch. Noch weiß ich nicht, ob das viel oder genug ist. Am Ende der Trockenzeit ist die Landschaft noch weitgehend braun und verdorrt, der Boden hart und rissig. Die Vegetation ist vertrocknet. Nur gelegentlich sehe ich Palmen und Bäume, die vereinzelt oder in kleineren Gruppen in einer parkartigen Savannenlandschaft stehen. Jetzt in der Regenzeit, von Ende November bis April, so erklärt mir der Taxifahrer unheilverkündend auf dem Weg nach Kupang, haben die Menschen in den Dörfern wenig Zeit für mich. Der landwirtschaftliche Zyklus beginnt, die Felder werden bewirtschaftet, und da der Regen unberechenbar fällt, muss die Saat schnell in den Boden. Niemand kann voraussagen, ob es in diesem Jahr reichlich regnet, oder ob es lange Regenpausen gibt. Die Wolkenbrüche können so heftig sein, dass sich die ausgetrockneten Flussbetten in Minuten in reißende Ströme verwandeln, die Erde und Geröll mit sich führen und die Straßen unterspülen. Oder ob sie überhaupt Wasser führen. Von der langen Trockenperiode, die gerade endet, bemerke ich nichts. Auf den fallenden Regen reagiert die Vegetation enthusiastisch. Der ausgetrocknete Boden saugt den Regen auf wie ein Schwamm. Doch dieser fällt spärlich, kein heftiger, tropischer Regen wie im Westen des Archipels. In Kupang gibt es tagelange, regenlose Unterbrechungen. Die Regenzeit ist die Zeit der Überschwemmungen, in der sich die meisten Wege in den Dörfern und Weilern in glatte, schlammige Pfade oder Pisten verwandeln. Noch weiß ich nichts von den schlammigen Wegen, die in der Regenzeit meine Reisen ins Landesinnere beschwerlich machen werden. Noch versickert das Wasser sofort im Boden und lässt diesen trocken zurück.
Während ich noch meinen Gedanken nachhänge, rast mein Chauffeur in halsbrecherischem Tempo die regennasse Straße hinab in die Stadt. Lachend beruhigt er mich. Es ist nicht viel Verkehr zu dieser Tageszeit; als ob eine einspurige, nasse Straße das Normalste auf der Welt ist. Es ist Mittag und ich wundere mich, dass uns keine anderen Fahrzeuge begegnen. Allmählich tauchen vereinzelt Hütten und größere Häuser entlang der Straße auf. Menschen sind kaum unterwegs, nur das eine oder andere Motorrad. Nichts deutet darauf hin, dass wir uns der größten Stadt Westtimors nähern. Die eine oder andere Werbetafel vielleicht, deren Parolen schrill und farbenfroh verkünden, dass der Kapitalismus schon vor mir angekommen ist.
„Die Regenzeit hat in diesem Jahr früh begonnen!“, fährt der Taxifahrer auf Indonesisch fort, als er mitgekommen hat, dass ich ihn verstehe.
„Für die Insel ist das ein Segen.“
Der ausgetrocknete Boden saugt den Regen begierig auf, dankt den dunklen Wolken mit frischem Grün. Hellgrüne Triebe sprießen an allen Bäumen entlang der Straße. Ein gutes Timing. "Herzlich Willkommen in Timor! Wir bauen ein neues, sauberes und sicheres Kupang!“, grüßt es von großen Plakatwänden vom Straßenrand zurück, als wir durch Walikota fahren. Erschreckt schießen mir Bilder einer verfallenen, schmutzigen und von Kriminalität gezeichneten Stadt durch den Kopf. Keine angenehme Umgebung für meine Frau und meine zweijährige Tochter.
Bei der Einwanderungsbehörde will mich niemand wirklich sehen. Es ist kurz vor eins. Die Beamten stehen im Eingang und rauchen. Das Wochenende hat schon begonnen. Auf mein hektisches Auftreten, meine unsicher umherschweifenden Blicke, hat niemand von ihnen Lust. Stoische Gebärden, müde, gelangweilte Ignoranz. Freundliches, unverbindliches Lächeln. Wieder spüre ich diese Wand zwischen mir und den Anderen, die das Eigene und Fremde trennt. Kein Wort und keine Miene bekundet Ablehnung, nichts spricht für Empathie. Niemand lässt sich anstecken. Tidak apa-apa, sagen sie, macht nichts, und schicken mich nass geschwitzt nach Hause. Montag oder Dienstag soll ich wiederkommen, die Form ist gewahrt. Provinz, nicht Jakarta. Ich atme durch. Ich bin angekommen. Kupang gefällt mir.

Kupang oder Cuppão, wie es hieß, als die Portugiesen die Region im Westen der Insel Timor heimsuchten. Kupang ist das administrative Zentrum der indonesischen Provinz Nusa Tenggara Timur und des Regierungsbezirks Kupang. Eine eigene Verwaltungseinheit, die sich entlang der südlichen Küste der Kupangbucht erstreckt und an die Sawusee grenzt. Die Stadt ist außerdem Bischofssitz und seit 1962 Universitätsstadt. Unversitas Nusa Cendana, heißt sie: Universität der Sandelholzinsel. Doch Sandelholz, das war einmal, bevor Jahrhunderte des Raubbaus Timor in eine karstige Insel verwandelt haben. Kupang ist Exporthafen und lebt vom Handel und der benachbarten Zementindustrie. Mein Hotel trägt den inspirierenden Namen King Stone, und liegt weit außerhalb der Stadt. Ein Name, der mich anzieht, der meine Fantasie weckt. Steine spielten in Timors Vergangenheit eine besondere Rolle. Die indigene Religion verehrte einst Quellen, an denen Bäume wuchsen und merkwürdig geformte Steine lagen. Die indigenen Überzeugungen der Atoin Meto favorisieren eine Religion von Holz und Stein. Später sah ich die Fatu, bizarre Kalksteinformationen, die wie mittelalterliche Ritterburgen überall aus der Landschaft ragen.
Das Hotelpersonal träumt im Dornröschenschlaf, während es auf die erhofften Touristen wartet. Der Osttimorkonflikt, der sich erst allmählich seinem Ende zuneigt, wirft seine Schatten bis ans andere Ende der Insel. Journalisten, Wissenschaftler, Händler und Touristen kommen erst langsam zurück nach Kupang, seit die Regierung wieder Aufenthaltsgenehmigungen erteilt. Ich bin einer dieser Gäste, mit dem aber niemand gerechnet hat. Und im King Stone sind wir die einzigen Gäste. Die Diskothek am hinteren Ende des Hotels ist geschlossen, obwohl die Girlanden und Lichterketten bereits aufgehängt sind. Wieder beschleicht mich ein nervöses Gefühl. Wo sind die anderen? Gibt es keine anderen Ausländer. So habe ich mir das nicht vorgestellt: der einzige Fremde im Land zu sein. Kupangs Verkehrsdichte wirkt auf mich provinziell. Der Ort gibt sich kleinstädtisch. Beinahe dörflich.
Das lokale Transportmittel in Kupang ist das Bemo, ein Kleintransporter, ein Minibus mit acht Sitzplätzen; im Laderaum. Einen weiteren, und wenn es sein muss, auch einen zweiten oder dritten in der Fahrerkabine. Dutzende dieser Fahrzeuge umrunden im Konvoi die Bucht; zentraler Omnibusbahnhof, wo die Fernbusse ins Landesinnere abfahren, Strandpromenade, Verwaltungszentrum, Markt in Kupang-Stadt. Die vielen Kleinbusse verkehren auf der immer gleichen Route im Convoy durch die Stadt. Erst am Stadtrand verschwinden sie auf verschiedene Routen. In der Stadt beschreibt ihr Weg einen Kreis. Vom Terminal, zu ihrem Ziel und zurück zum Terminal. Überlandbusse starten vom zentralen Busterminal nach Camplong, Soë, Niki Niki, Kefamenanu und Atambua. Privatwagen und Motorräder gibt es nur wenige. In Kupang regiert der öffentliche Nahverkehr beinahe konkurrenzlos.
In einem der zahlreichen, durch Kupang chauffierenden Kleinbusse fahre ich vom Hotel in die Stadt. Die kleinen Toyotas, Suzukis und Mitsubishis sind fahrende Diskotheken. Junge Männer, meist unter Dreißig, kaum viel älter, sitzen hinter dem Steuer. Die japanischen Kleinbusse sind hochdekorierte Schaustücke und trotzdem funktional. Mehrere Lampen, hinten und vorne am Dach angebracht, eine Informationstafel, die die Fahrstrecke nennt, wölbt sich über der Führerkabine. Die Karosserie ist eine schreiend bunte Lackierung. Auf beide Seiten hat man den Namen des Fahrzeugs in großen farbigen Lettern kunstvoll aufgemalt: Adam, Jaya, auch Maradona, sind die beliebtesten. Im Inneren der kleinen Fahrgastkabine hängen Poster, Werbung und christliche oder politische Slogans. Die Musik ist laut, ohrenbetäubend, jegliches Gespräch im Keim erstickend. Mir dröhnen die neuesten Hits in den Ohren und bis in die hinterste Ecke des Archipels. Indonesien hat eine eigene Schlagerwelt, die nur auf den ersten Ton vertraut klingt. Laut muss es sein. Gehört werden wollen sie. Wenn möglich bis nach Jakarta. Wir sind auch da! Wir sind modern! So lautet ihre Botschaft, die die Popmusik in den Kleinbus schleudert. Außer mir sitzen Fahrgäste jeden Alters, stoisch und mit unbewegter Miene im Stakkato der Beats und Gitarrenriffs. Die zum Sondertarif mitfahrenden Schüler und Studenten wippen im Rhythmus mit ihren Füßen. Groovy Transport für 200 Rupiah; jauh-dekat inklusive. Eine rollende Discothek.
In Kupang begleitet die Kleinbussen ein Schaffner. Er kassiert den Fahrpreis, hängt aus der offenen Tür und schreit den Passanten das Fahrziel zu, animiert sie, mitzufahren. Er regelt auch das Ein- und Aussteigen; das Verstauen des Gepäcks unter dem Sitz, wo sich manchmal Geflügel und Vieh befindet. Eine Selbstverständlichkeit. Bis auf die Auszubildenden zahlt jeder den gleichen Preis. Unabhängig davon wie weit er mitfährt oder wer oder was ein Passagier ist. Liegt das daran, dass Westtimor christlich ist. Solche Kleinbusse sind das einfache und geniale Transportmittel des öffentlichen Nahverkehrs. Es gibt sie im ganzen indonesischen Archipel. Der Stil, die Ideologie, der Ehrenkodex, Ausdrucksweise und Verhalten des Personals, die spezifische Art des Transports, sind kulturspezifisch unterschiedlich. Kleinbusse dagegen allgegenwärtig. Das Personal besteht aus Chauffeur und Begleiter, dem Allrounder für alles Übrige, eine eigene Berufsgruppe. Die Bemokultur besitzt Stil, Ideologie und Ehrenkodex. Bemobetreiber bilden eine eigene Berufsgruppe mit ausgeprägtem Verhaltenskodex und Normen. Bemofahren ist eine Haltung. Bemos sind überall. Ich kann sie jederzeit anhalten, ein- oder aussteigen wo, es mir gerade passt. Festgelegte Haltestellen mit Hinweisschild und Fahrplan gibt es keine. Das Bemo hält auf Zuruf, da, wo es der Fahrgast will. Der Kunde bestimmt seine eigene Strecke. Keine anonyme Bürokratie, die willkürlich Fahrpläne nach realitätsfernen Vorstellungen entwirft. Ganz unbürokratisch. Eine hervorragende Idee! Eine ethnologisch-soziologische Studie würde ein reichhaltiges und interessantes Feld vorfinden: Arbeitswelt, Weltanschauung, Berufsethos. Ein brisantes, spannendes Thema, das mitten ins Herz des modernen Indonesiens führt. Ich hoffe, jemand macht sich die Mühe. Ich dagegen bin woanders hin unterwegs.

In Kupang mutiere ich zum Exoten, der angefasst, angestarrt und bestaunt wird. Mir sind diese vielen, öffentlichen Zuwendungen fremd, immer wieder und überall berührt zu werden. Es ist mir unangenehm, so exponiert im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Ständig verwickelt mich jemand in eine Diskussion, den so unerwartet auftauchenden Fremden. Neugier und Interesse schlagen mir von überall entgegen. Freundlichkeit. Das Gefühl, willkommen zu sein. Die ewig gleichen Fragen, das immer gleich verlaufende Gespräch strengt mich an. Ich bin der Gast, nicht das exotische Exponat. Meine Gastgeber nehmen mich ganz in Anspruch, nehmen sich das Recht zu erfahren, wer ich bin und was ich bei ihnen will. Und das dutzende Male jeden Tag. Kein Entkommen möglich. Das Ausmaß an Öffentlichkeit raubt mir den Atem. Ein Small-Talk folgt dem nächsten. Meistens im Vorübergehen. Ständig zu lächeln, überfordert mich. Doch Kupang wird mir auf diese Weise schnell vertraut und ich fühle mich bald zu Hause. Die Menschen sind direkt, begegnen mir spontan und unverkrampft. Ich kann ihre unterschiedlichen Gefühle auf meine Anwesenheit in ihren Gesichtern lesen. In Kupang habe ich nicht mehr das Gefühl, ein leicht ausbeutbarer Tourist zu sein, dem alles gegeben wird. Gegen harte Währung natürlich. Die zehnjährige Touristenpause im Lande, erzwungen durch den Osttimorkonflikt, hat der Zwischenmenschlichkeit genutzt. So kommt es mir vor, in diesen ersten Tagen in Westtimor. Ich bin erleichtert, Mensch unter Menschen zu sein. Herzlichkeit und Offenheit. Keine Hintergedanken, vom Kontakt mit mir mehr als Begegnung zu verdienen. Ich genieße die offene und direkte Freundlichkeit. Eine Begegnung auf Augenhöhe.
Ich erkunde Kupang, gehe stundenlang durch die Straßen, am Meer entlang auf der Jalan Pantai, um mich zu orientieren. Auffrischende Böen treiben die Wellen klatschend ans Ufer, an die Mauern der Häuser oder auf den Sand. Kinder spielen in den Wellen und Fischer entladen ihre Boote. Die Stadt ist weitläufig und ausgedehnt. Großzügig angelegt und grün. Nicht die schmutzige, stickige Enge javanischer Städte. Nicht die beängstigende Atmosphäre Denpasars. Ein kleiner, gut überschaubarer Stadtkern. Laden auf Laden reiht sich aneinander. Kupangs Zentrum besteht aus einer einzigen Straße, die parallel zum Strand verläuft. Über sie fließt der gesamte Verkehr in die Stadt hinein und wieder hinaus. Um diesen Stadtkern gruppieren sich auf lockere Art Wohnhäuser, Verwaltungen, Banken, Hotels und noch mehr Läden. Viele Schulen, drei Universitäten, zwei kleine konfessionelle, eine staatliche mit zwei Zentren. Zur Peripherie hin lockert sich die Bebauung. Wohnen im Garten. Nach Osten streckt sich Kupang kilometerweit den Strand entlang. Nach Süden liegt ein mit spärlicher Vegetation bewachsenes, karstiges Hügelland. Walikota Baru, die moderne Verwaltungsvorstadt der indonesischen Administration.

Kulturell, sprachlich und ethnisch ist die Insel Timor durch eine außergewöhnliche Vielfalt charakterisiert. Im indonesischen Teil Timors, in Westtimor, ist Bahasa Indonesia die Amtssprache. Helong, die ursprüngliche Sprache Kupangs, wurde inzwischen durch die Bahasa Indonesia verdrängt. Helong sprechen nur noch wenige Alte in den Dörfern, südlich der Stadt und entlang der Ostküste sowie auf der Kupang vorgelagerten Insel Semau.
Während der Westen der Insel kulturell relativ homogen ist, leben in Osttimor mehrere Ethnien eng benachbart. Die dominierende Bevölkerung in Westtimor sind die Atoin Meto, die unterschiedliche Dialekte des Uab Meto sprechen und eine einheitliche Kultur bilden. Die Bunaq und Kemak im Westen der Insel bilden eigenständige Ethnien mit eigener Sprache und Kultur. Im Grenzgebiet zwischen West- und Osttimor leben die Tetun, die ebenfalls eine eigene Sprache sprechen. Die Kultur der Tetun in Zentraltimor ist mit der der Atoin Meto so eng verwandt, dass die Atoin Meto die Tetun, Belu, Freund, nennen. Osttimor ist die Heimat von fünfzehn weiteren Kulturen mit eigener Sprache und Überlieferung. Das Landschaftsbild der Insel ist von parallelen Gebirgszügen und engen Tälern und Schluchten geprägt. Die einst schwer passierbaren Gebirgszüge haben die kulturelle Vielfalt der Insel gefördert. Von West nach Ost nimmt dieser Landschaftstyp zu, sodass in Osttimor die Atauru, Baikeno, Bekais, Fataluku, Galoli, Habun, Idalaka, Kawaimina, Kemak, Makuva, Makalero, Makasae, Mambai und Tokodede eigene Sprachen und Kulturen entwickelt haben, viele davon kaum bekannt. Ob sie zukünftig noch angemessen dokumentiert werden können, ist fraglich, bevor sie sich weitgehend in der kolonial und westlich beeinflussten Atmosphäre der katholischen, portugiesischen Weltanschauung aufgelöst haben. In Osttimor ist das austronesische Tetun oder Portugiesisch die Amtssprache.

Nachmittags gehe ich mit meiner Tochter am Meer spazieren. Träge plätschern die Wellen auf den flachen Sandstrand, an den die Flut Treibgut, Kokosnussschalen und Plastikmüll angetrieben hat. Kassandra steht zum ersten Mal mit nackten Füssen im Meer. Während ich mich noch freue, zieht ihr eine Welle den Sand unter den Füßen fort, und sie plumst mit ihrem Po ins Wasser. Sie brauchte über ein Jahr, bis sie dem trügerischen Meer wieder vertraut; erst als Ihre Freundin Santi, die am Meer aufgewachsen ist, sie an die Hand nimmt.
Wir fallen auf. Wir sind weiß, mit glattem Haar, nicht braun und keine gekräuselten Locken. Europäer kommen selten nach Timor. Heimreisende australische Touristen aus Bali fliegen via Kupang direkt nach Darwin. Der Befreiungskrieg der FRETLIN in Osttimor hat die Kommunikation für Jahre unterbrochen. Erst allmählich kommt der Konflikt zur Ruhe. Westtimor, der indonesische Teil der Insel, ist erst seit zwei Jahren wieder für ausländische Besucher geöffnet. Ich habe nicht erwartet, dass ich der Exot bin. Kein Tourismus in Kupang, eine quirlige Stadt im Aufbruch in die Moderne. Ganz asiatisch; Europäer Fehlanzeige. Wo ich hinkomme, bestaunt mich Kupangs Bevölkerung. Nicht nur im Zentrum, auch am Stadtrand, zwischen Häusern inmitten von Gärten: Scherzende, bisweilen lästige Kinder begleiten mich auf meinen Wegen. Unverständliches Geplapper wabert hinter mir her. Ständig werde ich angesprochen und ausgefragt. Ich: Das unbekannte Wesen. Überall Neugier und Interesse. Staunende Menschen, sie scheinen erfreut über meine Anwesenheit. Eine schöne junge Frau begleitet mich ein Stück. Sie will nichts Bestimmtes. Mich nur in Ruhe anschauen. Bewundert sie mich, beneidet mich sogar? Ihrem Blick ist das nicht zu entnehmen. Real sind nur meine Projektionen. Als sie sich an mir satt gesehen hat, kehrt sie um. Menschen kommen auf mich zu, lächeln gewinnend. Grüßende Hände und Zurufe. Niemand winkt mit erhobener und rhythmisch nach vorne gesenkter Hand. Die Hand bleibt erhoben, und gleichmäßig mit gespreizten Fingern nach rechts und links bewegt. Begleitet von einem freundlichen Nda! Nda!. Eine einladende Geste.
Ich treffe einen alten Mann beim Zapfen der Lontarpalmen am Strand. Mit zwei zangenartig verbundenen Hölzern presst er die männlichen Blüten aus. In einem Becher aus einem Bambusabschnitt bietet er mir eine Kostprobe des angenehm süßen, klebrigen Saftes an. Seine Geste wirkt natürlich, selbstverständlich. Bandi nennt er die milchige, honigwasserähnliche Flüssigkeit. Täglich sammelt er den Saft in halbkreisförmigen Behältern, die er aus den Blättern derselben Palme faltet. Bevor er mir den Saft reicht, filtert er mit einem pinselartigen, faserigen Stengel die Verunreinigungen aus dem Saft. Höflichkeit, die Unsicherheit ist, hält mich ab, richtig zuzulangen. So gut schmeckt mir sein Ambrosia. Ich erinnere mich an ethnographische Schilderungen aus der niederländischen Kolonialzeit. Die Kultur der Atoin Meto, heißt es da, war einst eine Kultur der Lontarpalme. Die meisten Gebrauchsgegenstände wurden aus Materialien gefertigt, die diese Palme liefert. Auch Nahrung und Kleidung, selbst Gebrauchsgegenstände, Wohnungen und Musikinstrumente für die Feste. Eine materielle Kultur der Lontarpalme, der Palmyrapalme (Borassus flabellifer). Wie faszinierend!

Der erste Eindruck, heißt, sei entscheidend. Die ersten Tage auf dieser Insel, vor den Toren der Südsee, meine ersten Begegnungen. Timor gewinnt, hat auf mich gewartet, überzeugt mich. Die anfängliche Unsicherheit und Ängstlichkeit verliert sich. Freundliche Menschen. Neugieriges Interesse. Ein idyllischer Ort. Strand und Mangrovensümpfe in der Ferne vermitteln einen malerischen Eindruck. Gauginismus! Bunt bemalte Fischerboote laufen in der Abenddämmerung aus. Kleine Hütten aus Bambus mit Palmwedeln oder Grasbündeln gedeckt. Männer sitzen rauchend im Schatten. Elegant flanieren Frauen vorüber, ihr ölglänzendes, tiefschwarzes Haar im Nacken geschlungen; in farbige Blusen und Sarongs gehüllt, in denen europäische Körper plump und lächerlich aussehen. Kinder planschen als Scherenschnitt vor der untergehenden Sonne im grün schimmernden Wasser. Am Spülsaum brechen schäumend flache Wellen. Palmen säumen den Strand, wo die Siedlung beginnt. Dann versinkt die Sonne feuerrot im westlichen Meer. Es fällt schwer, nicht zu idealisieren, wenn man aus Europa in die Tropen kommt. Die erste Begegnung besitzt die naive Emotionalität der ersten Liebe. Man bleibt lebenslang gezeichnet. Wem dies nicht widerfährt, der hasst die Tropen, die Hitze, die Feuchtigkeit, die schwer bestimmbare Verbindlichkeit, das andere Zeitgefühl, das gelassene Laissez Faire ihrer Bewohner. Mich überflutet Südseeromantik. Gedanken an Conrads Roman Lord Jim. Ich bin angekommen und fühle mich willkommen. Vom Land und den Leuten. Zwei Jahre will ich bleiben, eine Aussicht, die ihre Unwägbarkeit mit einem Mal verloren hat.

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