Es ist Heiligabend. Für indonesische Verhältnisse kommt Mikhael Ruron pünktlich mit seiner Familie ins Hotel, um uns abzuholen. Wir sind inzwischen seit fast einen Monat in Kupang. Vor zwei Wochen habe ich ihn während einem meiner Behördengänge kennengelernt, wo er als Jurist beschäftigt ist. Er stammt aus Lamaholot in Ostflores, und arbeitet seit zwei Jahren für die Provinzregierung von Nusa Tenggara Timur als Sachbearbeiter. Seit sechs Monaten ist er im Direkturat Sosial Politk angestellt, dem Innenministerium. Seine Stelle als Sachbearbeiter im DIR SOS POL interessiert ihn nicht. Sie sei nur untuk hidup, um zu leben. Er hat in Semarang studiert, dort seinen Sarjana Hukum gemacht. Nach dem Studium blieb er lange arbeitslos. Wie so viele. Die meisten Beamten in den indonesischen Behörden sind hochqualifiziert ausgebildet und schlecht bezahlt. Oft nicht entsprechend ihrer Ausbildung und Begabung beschäftigt.
Mikhael kommt auf mich zu, begrüßt mich freundlich, und schlägt
gleich ein Treffen nach Feierabend vor. Er hat gehört, dass ich mit Frau und
Tochter nach Kupang gekommen bin und ist neugierig auf uns. Mikhael ist ein
moderner Indonesier, tolerant und weltoffen; mit dem Nationalstolz des
selbstbewussten Bürgers. Wie seine Nation, hat auch er es im aufstrebenden
Vielvölkerstaat Indonesien zu etwas gebracht. Jetzt will er eine europäische
Familie kennen lernen, sich selbst ein Bild machen. Das Verschiedene, das uns
trennt, und gleichzeitig in Beziehung bringt. Wann, hat er sich gedacht,
gibt es im indonesischen Hinterland schon einmal eine solche Möglichkeit.
Anfang der Woche waren wir das erste Mal bei ihm zu Hause. Er
wohnt abseits des Zentrums, in einem Viertel mit den charakteristischen
Einfamilienhäusern, umgeben von einem Garten mit Blütenpflanzen und
Fruchtbäumen; Augenweide und Nahrungsressource. Die Wege zwischen den
Häusern sind unbefestigt; eine Atmosphäre wie in einer der Laubenpieperkolonien Berlins. Die Regenzeit verwandelt sie in schlammigen Untergrund. Straßenbeleuchtung gibt es nicht, sodass uns bei unserem ersten Besuch am
frühen Abend nur ein hilfsbereiter Nachbar den richtigen Weg weist. Jeder
kennt jeden im Kampung. Mikhaels Haus steht auf einem Fundament aus Beton, die
Wände bestehen aus gespaltenem Bambus und das Giebeldach ist mit Grasgarben gedeckt. Eine
kleine Terrasse mit Kochnische, ein vornehm eingerichteter Empfangsraum für
Gäste, Sitzmöbel, darunter ein Plüschsofa, ein niedriger Tisch, darauf unverrottbare Plastikblumen in einer Glasvase. An den Wänden hängen bunte Bilder mit
christlicher Thematik. Hinter einem schweren, bodenlangen Vorhang versteckt
sich das Schlafzimmer der Familie; ein großes Bett für alle drei. Mehr braucht es nicht. Wichtiger ist der
Außenraum. Ein Quartier, eine Nachbarschaft auf Gegenseitigkeit, in dem sich
kein Fremder unbemerkt aufhalten kann. Ein Wohnen, in dem das Umfeld sozial
konfiguriert ist. Mikhaels Frau ist Javanerin. Er hat sie während seines
Studiums kennengelernt. Sie serviert uns Kaffee und Gebäck, während wir
plaudernd auf der Terrasse sitzen, bleibt aber im Hintergrund. Ob sie meine
Frau beneidet, die wie selbstverständlich am Gespräch der Männer teilnimmt?
Kassandra und seine Tochter Jesika spielen im Garten; als ob sie sich seit langem kennen. Kleinen Kindern fehlen die beengenden Konventionen, die den
Umgang Erwachsener miteinander komplizieren. Wir diskutieren über die
unterschiedlichen politischen Systeme in Indonesien und Deutschland. Der Fall
der Berliner Mauer ist in diesen Tagen ein immer wiederkehrendes Thema.
Es ist Heiligabend. Mikhael hat mich überredet, gemeinsam Malam Natal, Christi Geburt, die Christmette, zu feiern. Er
ist der Meinung, dass wir das auf keinen Fall versäumen dürfen, und drängt uns
zur Teilnahme. Damit wir nicht allein sind, insbesondere keine Fehler machen,
schlägt er vor, dass wir uns treffen und gemeinsam gehen.
Nachmittags weht ein ungewöhnlich kalter und heftiger Wind über
die Hotelterrasse. Der Tee kühlt schneller ab, als wir ihn trinken können und
Mikhaels Frau ist um Jesika besorgt, die sie in eine warme Jacke hüllt und ihr
die Kapuze über den Kopf zieht. Kassandra hat inzwischen verstanden, dass sie
mit anderthalb Jahren ein halbes Jahr älter ist als Jesika. Sie spielt sich
als großes Mädchen auf, zeigt der kleineren, was sie alles kann, und animiert
sie dazu, sie nachzuahmen. Mikhael hat eine gute Nachricht mitgebracht: Er hat
ein leerstehendes Haus in Soë gefunden; sein Weihnachtsgeschenk und endlich ein
Domizil für uns. Der ältere Bruder eines früheren Kommilitonen vermietet es
vorübergehend. Wir können jederzeit umziehen, das Hotelleben beenden und
wieder ein geregeltes Familienleben führen. Besonders für Kassandra ist das
wichtig.
Gegen sechs Uhr verlassen wir die windige Terrasse und gehen ins
Karang Mas zum Abendessen. Um uns zu stärken, bevor die Zeremonie in der
katholischen Kathedrale Kristus Raja beginnt. Vier Stunden mindestens, sagt er. Wie oft haben wir an den Abenden
im letzten Monat im Karang Mas gesessen, während auf der Terrasse mit Meerblick
die australischen Ex-Patriots mit einheimischen Frauen trinken und lärmen, und
die Serviererinnen mit Kassandra scherzen. An diesem Abend ist es im Restaurant
ruhig. Wir sind die einzigen Gäste.
Die Christmette beginnt um neun Uhr, doch Mikhael
drängt. Wir müssen frühzeitig in der Kirche sein, sonst sind alle Plätze
besetzt. In Deutschland würde jede Gemeinde jubeln. Kupangs Bevölkerung bekennt
sich mehrheitlich zum protestantischen Glauben, und doch reichen die drei
katholischen Kirchen Kupangs Heiligabend nicht aus. Jede von ihnen ist in
dieser Nacht überfüllt. Die Christmette in Kristus Raja bildet den Höhepunkt
des gesellschaftlichen Weihnachten. Gegen halb acht Uhr sind wir vor der
Kathedrale, ein vergleichsweise schmuckloses, großes und rechteckiges Gebäude
von 1975. Erst das schlichte Kreuz auf der Vorderseite weist das unscheinbare
Gebäude als eine Kirche aus. Durch die Fenster, schmale, längliche
Bleiverglasungen mit bunten geometrischen Mustern und christlichen Symbolen,
fällt grelles Neonlicht, das den Innenraum viel zu hell beleuchtet. Innen
breiten sich mehrere Reihen hölzerner Kirchenbänke vor dem Altar aus, so wie
man sie in christlichen Kirchen erwartet. Daneben steht die zu Weihnachten
unvermeidliche Krippe mit der Heiligen Familie, darüber eine mit traditionellen
Textilien geschmückte Kanzel. Über allem hängt ein großes, einfaches
Holzkreuz mit dem Gekreuzigten und dem universellen weihnachtlichen
Segensspruch: Friede
auf Erden und den Völkern ein Wohlgefallen. In Bahasa Indonesia wohlgemerkt, nicht in der Landessprache Uab Meto. Dazu ist die Gemeinde ethnisch zu sehr gemischt. Es braucht eine
Lingua Franca, damit die Frohe Botschaft auch ankommt. All das ist in blendendes Neonlicht gebadet. Die sich im Raum stauende Hitze verwirbeln
mühsam ein paar in die Jahre gekommene Ventilatoren. Ein deutscher Sponsor und
ein niederländischer Pater waren die Initiatoren, die sich um den Bau dieser
Kirche verdient gemacht haben. Sie steht an der einzigen verkehrsreichen Straße
der Stadt, auf der tagsüber die Bemos ihre Runden drehen. Ihr gegenüber, auf
einer Insel, um die der motorisierte Strom fließt, steht das Denkmal eines
idealtypischen Rajas aus der Dynastie Sonba`i auf einem quadratischen Sockel,
den ein fünfzackiger goldener Stern schmückt, Symbol der Panca Sila, des panindonesischen Nationalethos. Darunter
die Inschrift: Monumen Pahlawan Sonbai. Der namenlose
Nationalheld sitzt auf einem sich aufbäumenden Pferd, mit wehendem
Umhang, in der ausgestreckten rechten Hand ein Schwert, als führe er ein Heer
zum Angriff; traditionell gekleidet, mit Haarknoten und Kopftuch. Wäre die
Statue ein Zeichnung in einer Graphik Novel, dann schwebte über ihr eine
Sprechblase: Attacke! Erstarrt, in der Bewegung eingefroren, ein
anti-kolonialistischer Held wie der balinesische Gusti Ngurah Rai.
An der Fassade der Kirche nagt der Zahn der Zeit. Kleinere
Reparaturen sind erforderlich. Das feuchtheiße Klima ist gnadenlos, und die
indonesische Mentalität steht dem Haben-Modus der westlichen Welt stoisch
gegenüber. Niemand stört sich an den Spuren der Vergänglichkeit. In den Tropen
ist sie so allgegenwärtig, dass man sie kaum noch wahrnimmt. Als wir die
Kathedrale erreichen, sind alle Plätze im Inneren bereits besetzt. Wir sind
doch zu spät gekommen. Sitzplätze gibt es nur noch draußen vor der Tür, aber
dafür in der ersten Reihe, wo ich mich zur Schau gestellt fühle. Aber es ist
ein Ehrenplatz, der die Reihen von Klappstühlen anführt, die vor dem
Haupteingang der Kathedrale stehen. Wir können der Zeremonie im Inneren über
die TV-Monitore und Lautsprecher gut verfolgen, die das Geschehen aus mehreren
Perspektiven nach draußen übertragen. Die Videokameras im Inneren der
Kathedrale versorgen uns mit farbigen Bildern. Von überall her bin ich Blicken
ausgesetzt, die ich prickelnd auf der Haut spüre, deren Ursprung ich nicht
kenne. Sie machen mich nervöser, als ich ohnehin schon bin. Neugier und
Interesse oder Misstrauen und Ablehnung. Eine Melange aus all dem. Ich weiß
nicht, ob ich mich als Gast oder Eindringling fühlen soll. Das Vertraute der
Christmette aus Kindertagen fühlt sich plötzlich verstörend fremd an. Eine
Stunde später ist es auch vor der Kirche überfüllt. Um die Stuhlreihen herrscht
ein chaotisches Gedränge und Geschiebe; selbst die Stehplätze sind knapp. Nun bin ich froh, doch einen Platz in sicherer Entfernung zu haben. Die aufdringlichen
Blicke, die mich eben noch verunsichert haben, sind im allgemeinen
Durcheinander untergegangen.
Eine lange Wartezeit beginnt. Kassandra und Jesika verlieren schnell die Geduld und das Interesse. Als die Veranstaltung endlich beginnt, sind beide gelangweilt, quengeln und wollen nach Hause. Jesika schafft es nur bis zum Beginn der Mette. Kassandra hält noch eine gute Stunde durch. Sie wartet auf die tanzenden Männer, in ihren farbigen Roben und fantasievollen Masken, die sie von den balinesischen Tempeltänzen kennt. Als sie nicht kommen, wird sie immer ungeduldiger. Schließlich ist sie verärgert und frustriert, und verlangt lautstark, und in gebrochenem Indonesisch, dass ihre Erwartungen endlich erfüllt werden. Die Liturgie findet sie steif, zu wenig dramatisch; ihr fehlt die Vitalität des balinesischen Tanzes, die treibenden Tempi das Gamelans. Die gesungenen Lieder kommentiert sie lapidar als zu laut. Auf die christliche Liturgie will sie sich nicht einlassen. Dazu hat ihr die balinesische Performance zu gut gefallen. Das Christliche hat keinen Unterhaltungswert, die lockere Atmosphäre der balinesischen Zeremonien, das freie Umherlaufen in der Pura, das unmittelbare, theatralische Geschehen, fehlen ihr. Den TV-Monitor, den wir aus der ersten Reihe gut sehen können, straft sie mit Verachtung. Ruhig zu sitzen, sich nicht bewegen dürfen, nicht zum Altar laufen können, all das sagt ihr überhaupt nicht zu. Es hilft alles nicht, sie muss nach Hause, und ich bin dem befremdlich vertrauten Katholizismus allein ausgeliefert. Niemand fragt danach, ob ich nicht auch den hinduistischen Ritus bevorzuge.
Um neun Uhr beginnt die Christmette mit einer
kurzen Ansprache in Indonesisch: Die Begrüßung der Anwesenden und die
Aufforderung an Nah und Fern zur Teilnahme an der Christmette. In Kostümen und
theatralischen Gesten findet ein Krippenspiel statt, das an Oberammergau
erinnert. Maria und Josef kommen zur Volkszählung ins überfüllte Nazareth,
finden kein Zimmer und landen in einem improvisierten Stall in der Nähe des Altars, wo sie
ihre bescheidene Zuflucht finden. Jesus kommt in Gestalt einer Puppe auf die
Welt, Komet und Engel treten in Persona auf, die Hirten machen ihre Aufwartung
vor dem Neugeborenen, dessen Geburt von mancherlei eigenartigen Erscheinungen
begleitet wird. Eine Stunde vergeht mit dieser Spielhandlung, mit Rezitationen
aus dem Evangelium; ein gemischter Chor singt die entsprechenden Lieder, die
Gemeinde intoniert die Refrains. Nachdem die Hirten ihre Aufwartung beendet
haben, ist das Krippenspiel vorbei. Die Akteure treten ab. Maria und Josef
führen in Weiß gekleidete Priester aus
der Sakristei zurück und platzieren sie am Altar; Maria mit gesenktem Kopf und
andächtig gefalteten Händen. Der bärtige Josef steht mit hoch erhobenen Haupt, auf
seinen Wanderstab gestützt.
Die Liturgie folgt dem bekannten Schema: Lesung,
Predigt, Wandlung, Kommunion und abschließender Segen. Die zentralen Phasen in
lateinischer Sprache, alles andere in Indonesisch. Die Sprache der Atoin Meto, Uab Meto, die einheimische Sprache, kommt noch immer nicht vor. Die Predigt erzählt von der Geburt Jesus
mitten unter uns, di setengah-setengah kita, von der
notwendigen Solidarität unter den Menschen, die Jesus vorgelebt hat, sowie von
der Verwirklichung der fünf Werte der Panca Sila, durch
aktives Christsein in der modernen indonesischen Gesellschaft. Die frohe
Botschaft der Christnacht kommt im muslimischen Indonesien ganz profan daher:
eine Christenheit, eine indonesische Menschheit, seratus prosen Kristen, seratus prosen orang Indonesia, hundert
Prozent Christ, hundert Prozent Indonesier. Politische Propaganda, ganz ungeniert. Piet Manehat SVD, der Bischof von
Kupang, ruft sie mit ausgestreckten Armen dem Auditorium entgegen. Der Ablauf
der Messe, ihre innere Struktur, unterscheidet sich kaum von Messen in
Deutschland. Aber ihr Ablauf ist elaborierter und völlig ritualisiert.
Immer
wieder wird die Messhandlung unterbrochen, die Aufmerksamkeit der Teilnehmer an
der Messe von der eigentlichen Handlung abgelenkt, auf weiteres Geschehen
vorbereitet und emotional eingestimmt. Das Krippenspiel und der feierliche
Einzug der Priester, die verschiedenen Rezitationen der Ereignisse im Stall zu
Bethlehem; zuerst von einer Frau von der Kanzel, dann von einem Priester im
Sprechgesang, später während der Lesung zum dritten Mal vorgetragen. Immer
wieder Choreinlagen, gemeinsame Gesänge, die die Gemeinde emotional stark
beteiligt aufgreift, gemeinsame Gebete, die die Messe unterbrechen, und den
Priester innehalten lassen. Der Höhepunkt der Christmette ist die Wandlung und
die feierlich verteilten Hostien. Eine Prozession, angeführt von weiß
gekleideten Kerzenträgern. Wie zur Erstkommunion gekleidete Mädchen und ältere
Frauen schreiten mit feierlichem Schritt durch das Kirchenschiff. In
bodenlange weiße Gewänder gekleidete Priester tragen die Kelche mit den Hostien
zum Altar. Niemand bleibt an seinem Platz zurück. Alle streben zum Altar, wo
die Priester in einer langen Reihe stehen, jeder mit einem Hostien gefüllten
Kelch, um die Gläubigen zu bedienen.
Als ich begreife, was auf mich zu kommt,
bedauere ich, Mikhael gesagt zu haben, ich sei katholisch, dass ich längst aus
der Kirche ausgetreten bin, habe ich ihm verschwiegen. Eine weiße Lüge, die halbe Wahrheit
des Hermes, bringt mich nun in die größten Schwierigkeiten. Ein Rückzug ohne
Gesichtsverlust, ohne Mikhael öffentlich bloß zu stellen, ist keine Option. Ich beneide meine Frau, die unsere Tochter
nach Hause gebracht hat. Auf seine Frage: Sudah menerima hostie?, nicke ich ergeben. Ich folge ihm zum Altar wie
auf dem Weg zur Schlachtbank, Blicke wie Dolche im Rücken. Wieder stehe ich im Zentrum
der Aufmerksamkeit. Jeder will sehen, wie es der Fremde macht. Es ist nicht das
weihnachtliche Hochgefühl, sondern das Adrenalin, das mir den Schweiß aus allen
Poren treibt. Ich bin der Vertreter einer Kultur, die diesen Glauben nach Timor
gebracht hat. Ich schaffe es nicht, gelassen sitzen zu bleiben. Ich fürchte
mich vor den vielen Fragen, die ich nicht beantworten will und kann. Davor, Mikhael zu
kompromittieren. Ich gehöre an diesen Anfang, werden alle anderen denken. Die
erste Reihe lässt mir keine Gelegenheit stillschweigend unterzutauchen. Ich,
der Ungläubige aus der ersten Reihe, führe die Gläubigen zum Altar. Grotesker
geht es nicht mehr. Auge in Auge mit dem Priester, der die Hostien verteilt,
sehe ich nicht, wie sich die anderen verhalten. Es ist Jahrzehnte her, dass ich
an dieser Stelle gestanden habe. Damals legte der Priester dem Gläubigen die
Hostie auf die Zunge. Ich improvisiere so gut ich kann, improvisiere falsch,
und alle sehen, was ich verbergen will.
In Indonesien gilt die linke Hand als unrein, denke ich, und entscheide mich spontan für die rechte Hand, kehre an meinen Platz zurück und nehme die Hostie erst dort in den Mund. Jetzt habe ich reichlich Gelegenheit zu sehen, wie es richtig gemacht wird. Natürlich wird die Hostie mit der linken Hand entgegengenommen, und mit der rechten zum Mund geführt, unmittelbar nachdem sie empfangen wurde. Auf dem Nachhauseweg ist es schwierig, Mikhael eine Geschichte aufzutischen, von all dem, was in Deutschland anders gemacht wird. Ich bin nicht überzeugend, und unser Gespräch versickert auf dem Heimweg. In Indonesien konfessionslos oder gar Atheist zu sein bedeutet, man ist Kommunist oder Animist. Panca Sila verlangt die Mitgliedschaft in einer der fünf Hochreligionen. Die Schwierigkeiten, die besondere Form des balischen Hinduismus im Sinne der Panca Sila zu sanktionieren, ist das prominenteste Beispiel dieses ideologischen Zwangs, dessen Regel lautet: keagamaan contra kepercayaan, Religion, monotheistisch natürlich, versus ethnische Glaubensvorstellungen, die als animistisch und rückständig gelten. Ein ethnologisches Dilemma. Selbst im modernen Indonesien akzeptiert es kaum jemand, nicht Mitglied einer der monotheistischen Religionen zu sein. Welche das ist, interessiert nicht; da ist der Indonesier sehr tolerant. Nur ganz ohne, ist undenkbar.
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