Freitag, 12. Juni 2020

Nur ein gekrümmter Haken?


Textilien, besonders, wenn es sich bei ihnen um eine Tracht handelt, machen Aussagen über kulturelle Vorstellungen und Überzeugungen, über allgemein geteilte Normen und Werte im Sinne eines Common sense. Die textile Ikonographie der Atoin Meto besitzt einen kulturellen Bezugsrahmen, denn es handelt sich bei den verwendeten Basismotiven nicht um Privatsymbole, sondern sie beziehen sich auf ihre ethnische Identität und fördern ethnisches Selbstverständnis und ethnische Selbstdarstellung Die Bedeutung ihres Motivrepertoires war einst allgemein verständlich, da es ihren Ort in den Ritualen des Lebenszyklus sowie den religiösen Überzeugungen hatte. Viel ist davon nicht übriggeblieben.

Ich habe mich bereits früher mit der Frage beschäftigt, welche Bedeutung die Motive der Tracht der Atoin Meto besitzen. Meine Analyse einer umfangreichen Stichprobe von Textilien aus Westtimor ergab, dass sich die meisten Motive auf zwei Basismotive reduzieren lassen, auf die Raute und auf die Spirale. Zu Beginn glaubte ich, dass es sich bei diesen Motiven um eine Kombination von Raute und Spirale handelt, um eine Kombination von Krokodil und Vogel im selben Motiv. Betrachtet man die Tracht der Atoin Meto unvoreingenommen, dann sieht man Vögel, die manchmal Hähne sind, und verschieden große Echse, die Krokodile sind, aber auch an andere Echsen erinnern. Mittlerweile werden sie auch als solche wahrgenommen, denn zum Krokodil, dass in Amanuban nicht mehr heimisch ist, besteht auch im modernen, indonesisch geprägtem Umfeld eine ambivalente Beziehung, über die niemand gerne redet. Prominent unter diesen Aliasspezies ist der Gecko (toke), in altindonesischen Kulturen ein Ahnensymbol.
Neben den naturalistischen Abbildungen sieht man eine Vielzahl von stilisierten Vögeln und Krokodilen auf den Textilien, scheinbar ins Unendliche variiert, und schließlich abstrakt aufgelöst. Vor diesem Hintergrund kam ich zu der Auffassung, dass Vogeldarstellungen wie der Koroh oder Kol kase auf den Textilien aus Amarasi ganz allgemein Repräsentationen des Himmelsgotts Uis Neno sind. Dieser erteilt in der Kosmogonie, von der ebenfalls kaum etwas übriggeblieben ist, zwei Vögeln den Auftrag, die Welt zu erschaffen, wobei auch Garn eine Rolle spielt. Mathias Laubscher berichtet, dass Vögel als Schöpfungshelfer in Ostindonesien ein verbreitetes narratives Motiv sind, das immer mit dem Himmel verbunden ist. Außerdem spielte in den Ritualen des Lebenszyklus der Atoin Meto der Hahn eine wichtige Rolle als Opfertier. Wie die ethnographische Literatur über Westtimor bestätigt, begleiten Vögel als Paychpomp die „Seelen“ von Verstorbenen auf ihrer Jenseitsreise, werden auch als deren Repräsentant angesehen. Auch das Krokodil, heißt es in diesen Texten, wird in der oralen Tradition mit Uis Neno verbunden. Also nahm ich erst einmal an, muss auch das Krokodil ein Symbol für diese Himmelsgottheit sein. Ich ging davon aus, dass die beiden Basismotive, Krokodil und Vogel, formal und inhaltlich als Symbole des männlichen Himmels eine Einheit bilden.
Allmählich legte die Analyse das kleinste Verzierungselement dieser Ikonographie frei, auf dem der gesamte Motivkatalog beruht, und nennt das Phänomen beim Namen, eine abstrakte Form, die weder Vogel noch Krokodil ist. Das häufigste Element der künstlerischen Ausdrucksweise der Atoin Meto ist ein rückwärtsweisender Haken, der an eine der knöchernen Harpunenspitzen aus dem Magdalenièn erinnert. Dieser `Kaif genannte Haken stellt ein Symbol der Integration und des Schutzes dar, der Integration von Gegenständen oder Personen in die eigene Sphäre, des Schutzes vor eindringenden und ergreifenden Mächten.

Im Alltag, sowie bei den Arbeiten in Garten und Feld, verwenden die Atoin Meto diesen `Kaif, einen Ast mit entsprechender Gabelung, um Dinge näher heranzuziehen, die zu hoch oder weit zu entfernt sind, um sie mit der Hand zu erreichen. Unter alltäglichen Bedingungen ist der `Kaif nur ein einfaches Werkzeug. In der symbolischen Bedeutung der Motive ihrer Kleidung dagegen ist er weitaus mehr. Er heißt dann auch nicht mehr einfach `Kaif, sondern erhält einen qualifizierenden Namen. Der einfache Gestaltverlauf eines Hakens hat sich formal zu einer Einheit in der Vielfalt entwickelt. Seine Bedeutung ist dabei allerdings erstaunlich eindeutig und einheitlich geblieben. Dieser Haken ist ein Instrument, mit dem Dinge herangezogen, mit dem sie aber auch abgewehrt und ausgegrenzt werden können. Diesen Wunsch erfüllte auch den Krieger-Kopfjäger der Atoin Meto, den Meo ao besi, der seine Opfer in die eigene Sphäre ziehen wollte, sie magisch bannen, um ihnen ihren Kopf zu nehmen.
Fragt man in Amanuban die Produzenten und Träger ihrer Tracht nach den Namen der Motive, mit der sie ihre Kleidung verzieren, erfährt man mehrere, deskriptive Begriffe. Auf den Textilien erscheint der `Kaif unter verschiedenen Namen. In den 1930er Jahren hat Alfred Bühlet in Zusammenarbeit mit dem Völkerkundemuseum Basel über die Ikattechnologie Süd- und Südostasiens geforscht, und auch in Amanuban gearbeitet. Auch er hat seine Informanten nach den Motivnamen gefragt, und zwei Namen erfahren, die im Archiv in Basel bewahrt werden: makaif und kolo. Die Namen, die man mir über fünfzig Jahre später nannte, sind mit A. Bühlers makaif verwandt, was nichts weiter bedeutet, als einen „kaif besitzen“. Die charakteristischen Motive der Tracht, um die es handelt,sind nicht nur aus Haken aufgebaut, sie bestehen auch aus einer Vielzahl unterschiedlicher Rauten, deren gemeinsames Merkmal es ist, dass sie alle, unbeachtet ihrer Größe, an ihren vier Spitzen, oft auch den Längsseiten, gekrümmte, rückwärtsweisende Haken besitzen: eben diesen Kaif. Je nach Gestalt und Anordnung der hakenbewehrten Rauten auf den Geweben, ändert sich ihr Name und wird deskriptiv. Es gibt den Kaif Naek, den Kaif Tola, den Kaif mausa, den Kaif manaka sowie den Kai koti Kai nan. Neben diesem abstrakten Rautenmotiven existieren zoomorphe und anthropomorphe Darstellungen, die aus einer Kombination der mit Haken versehenen Raute bestehen und eigene Namen besitzen.

Es ist nun schon Jahre her, dass ich mich von den Motiven der Atoin Meto-Tracht abgewandt habe, enttäuscht, dass sich mir ihre Bedeutung immer wieder entzog. Wenn ich glaubte, einen Durchbruch erzielt zu haben, endete mein Enthusiasmus aufs Neue in einer Sckgasse. Doch sie haben mich nie ganz losgelassen, und immer, wenn ich ihnen in all diesen Jahren begegnet bin, kam die Faszination der offenen Fragen zurück. Jetzt muss ich tief graben, viele Schichten abtragen, um die richtigen Sedimente freizulegen, mich zu erinnern, um den vielen Fragmenten, die ich gesammelt habe, einen Sinn abzugewinnen. Forschung benötigt Hypothesen, um Ergebnisse zu generieren, um Sachverhalte zu klären und Theorien zu bilden. In Jahrhunderten wissenschaftlicher Forschung wurden unzählige Theorien aufgestellt, verworfen, belächelt, heftig bekämpft. Manche von ihnen erlebten eine Renaissance, brachten neue Fragen und Antworten. Und wurden erneut verworfen. Manches hat Bestand, geht nicht verloren, und gehört zu den sogenannten unantastbaren Wahrheiten, die es für einen Wissenschaftler nicht sollte, und ohne die er trotzdem nicht leben kann. Ich habe meine Fragmente gesichtet, geordnet, und zu einem Ganzen verbunden. Ob meine Interpretation den Kern der Bedeutung trifft, werden vele bezweifeln. Doch ich bin davon überzeugt, dass ich nicht falsch liege. Meine Hypothesen bauen auf Ruinen auf, doch solange es keine anderen Erkenntnisse gibt, bildet mein Verständnis der Ikonographie der Atoin Meto einen Ausgangspunkt. Die Isolierung eines Basismotivs, des gekrümmten Hakens, stellt einen Durchbruch dar. Dieser Haken bildet eine universelle Gestalt, die sich kulturintern und kulturspezifisch für eine Vielzahl von Bedeutungen verwenden lässt. Die Atoin Meto Westtimors habe eine Wahl getroffen, die ihren Bedürfnissen und ihrer Weltanschauung entspricht. Aus der Kombination mehrerer Haken bilden sie Rauten, die sich als stilisierte Krokodil- oder Vogeldarstellungen interpretieren lassen. Eine andere Raute besitzt an ihren vier Ecken alternierende Haken, eine Darstellung ihres zentralen, vorchristlichen und vorindonesischen Ritualorts.
Trotz der offensichtlichen Vielfalt der unterschiedlichsten Motive, die für die Gestaltung der Gewebe existieren, ist es nun möglich, sie in drei verschiedene Gruppen zu ordnen. Entweder ist ein Motiv ein `Kaif Tola, ein Fut Kolo oder ein Fut Kauna. Scheinbar abweichende Motive, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht in eine der beiden Kategorien passan, sind sie doch nur Variationen des immer Gleichen. Und trotz ihrer inneren Vielfalt und scheinbaren Uneindeutigkeit, ist jede dieser beiden Motivklassen eindeutig definierbar.
Symbole sind multivokal. Auch der `Kaif repräsentiert verschiedene, allerdings interdependente, basale Konzepte für die Kultur der Atoin Meto. Basal deshalb, weil sie für das ethnische Selbstverständnis grundlegend sind, und daher nicht vergessen werden dürfen. Dass in Amanuban ein so großer Wirrwarr hinsichtlich ihrer Ikonographie besteht, so wenig erinnert wird, reflektiert den kulturellen Wandel, den eine jahrzehntelange Christianisierung bewirkt hat.
Ein `Kaif-Motiv ist nur dann eins, wenn es über eine zentrale Raute verfügt, den Kopf, nakan, genannt, der den Tola repräsentiert. Allerdings stellt sich die Frage, ob es sich bei dem Nakan nicht um ein Deckname handelt. Der textile Tola besteht aus einer rautenförmigen Figur, die am oberen und unteren Ende rückwärts gekrümmte Haken besitzt, die sich symmetrisch gespiegelt gegenüberliegen. Dieser Kopf heißt ebenfalls `Kai manaka, der `Kaif, der einem Kopf besitzt. Er bildet ein Symbol des ehemaligen zentralen Ritualorts der Atoin-Meto. Dieser Tola ist ein Opferpfahl, ein Altar, den einst jede agnate Gruppe, jede kleinere soziale oder größere politische Einheit, Lineage (ume) oder Klan, (kanaf, besaß, der Mittelpunkt der religiösen, sozialen und politischen Zusammenkünfte kooperierender Gemeinschaften.
Der Tola, den das `Kaif-Motiv imitiert, war ein mit seinen Wurzeln zum Himmel weisender Baumstamm mit dreigliedriger Gabel, ein kosmisches Symbol, das die Axis Mundi symbolisierte, Sinnbild eines dreigeteilten, anthropomorphen Kosmos. An der Basis des Stamms, oder in der Wurzel deponiert, lag ein Stein, Sitz der Ahnen, die Unterlage um Opfergaben zu deponieren. Die Religion der Atoin Meo gruppiert sich nämlich um zwei zentrale Symbole, die der Natur entnommen sind: Hau Le`u, Faut Le`u, numinoses Holz, numinoser Stein; eine religiöse Konzeption des Ortes, die ihre Rituale auf prominente Symbole der Härte, Dauer und Beständigkeit fokussiert. Mit gutem Recht kann von einem religiösen System gesprochen werden, einer Religion von Baum und Stein, eine Entität, der die Vorstellung einer Polarität unterliegt: die zum Himmel greifenden Wurzeln des Baums repräsentieren Uis Neno), den personifizierten Himmel, und die Erdenschwere des Steins (Uis Pah). Die Orte von Baum und Stein sind Ursprungsorte der Klane, die an ihre ursprüngliche Herkunft sowie ihre Migrationsrouten erinnern, meistens imposante Landmarken, an denen sich auch eine Quelle oder ein See befinden kann. Der Baumstamm (un) wird zum Symbol der Herkunft beziehungsweise Abstammung uf, von dem sich die Äste (tunan) in alle Richtungen fortsetzen. Symbole ethnischer Identität, in der Sprache der Natur, die sich im Gewebe wiederfinden.

Auf einer parallelen Ebene kollektiver Repräsentationen verkörpert der `Kaif Tola die für die Kultur der Atoin Meto charakteristische politische Struktur: vier periphere Einheiten umgeben ein Zentrum. Die in vier innere Segmente gegliederte Raute wird von vier Tola-Formen umgeben. Das Zentrum dieser Figur befindet sich im Schnittpunkt von zwei Diagonalen, die die zentrale Raute in vier gleichgroße Abschnitte unterteilt. Diese vier Tola, sowie die vier Abschnitte der Innenraute, umgeben das zentrale Motiv: in Amanuban die vier Meo Naek den Meo Nae, in Insana die vier Usif den Atupas oder die vier Amaf Naek einen Usif. Die 4+1-Gliederung stellt eins der auffälligsten Merkmale des `Kaif Tola dar, und ist eine weitere symbolische Dimensionen dieses Motivs; nach der religiösen, die politische Dimension des `Kaif Tola.
Die Namen der `Kaif-Motive, und ihre Exegese, die ein Interview mit Napoleon Fa`ot und anderen ergaben, lassen sich auf ein Bedeutungsspektrum schließen, das Schutz und Geborgenheit für den Träger gewähren soll:

  • Ein `Kai makiu besitzt zwei Haken, deren Enden ineinandergreifen.
  • Der `Kai makiu variiert den weit verbreiteten `Kai bi`a suna, der in moderner Lesart als Horn des Wasserbüffels interpretiert wird, sodass seine Ähnlichkeit mit dem `Kaif tola maskiert wird. Der `Kai bi`a suna erscheint auf den Geweben in mehreren Variationen, beispielsweise als Kai man`euk` oder `Kai fetin. Ein alternativer Name, der ebenfalls auf eine moderne Interpretation verweist, lautet Nak bi`a suna, Büffelkopf.
  • Johanis Nahak bezeichnet den `Kaif tola zuerst als `Kai mnutu, lässt auf Nachfrage auch den Namen `Kaif tola gelten. Diese Bezeichnung favorisiert auch eine Broschüre des DEPDIKBUD, obwohl das `Kaif tola-Motiv alles andere als filigran (mnutu) ist.
  • Ein alternativer Name für den `Kaif tola lautet `Kai mausa, deshalb, weil die zentrale Raute in vier kleine, zentrale Rauten gegliedert ist (mausa, ein Zentrum besitzen; usan, Zentrum). Für das gleiche Motiv habe ich auch den Namen `Kai mnutu tola gehört. Aber auch `Kai manaka, der `Kaif mit einem Kopf (nakan), wird als Name für dieses Motiv genannt. Nach Naomi Ton besitzt der `Kaif tola eine Kopf, den Tola, weshalb er auch `Kaif manaka heißt. Ein `Kai fetin (`` Kaif ka manaka fa) besitzt im Unterschied dazu keinen Kopf.
  • Der `Kai koti `Kai nan beitzt weder einen Kopf noch einen Tola. In diesem Motiv äußert sich die Absicht, sich schützend in mit Hakenmotiven gemusterte Textilien zu hüllen, noch am deutlichsten. Es handelt sich bei diessem Motiv um parallele Stränge nach innen nach außen gekrümmter Haken, die das Gewebe wie mit einem Drahtverhau überziehen. Parallele, in Ikat ausgeführte, weiß auf dunkelblau verlaufende Stränge, strecken kleine rückwärtsweisende Haken nach allen Seiten aus, eine Barriere, die kaum zu überwinden ist. Erkennt man den Aufbau dieses Motiv aus gekrümmten Haken, bleibt dessen apotropäische Wirkung nicht länger verborgen.
    Es soll auch ein verwandtes Motiv mit dem Namen `Kai kotin geben, dass lediglich nach außen gekrümmte Haken besitzt, das ich aber nie gesehen habe. Der wichtigste Unterschied, so Naomi Ton, besteht darin, dass der `Kai kotin ein Zentrum besitzt, und deshalb auch `Kai mausa heißen kann.

Zugegeben, die Vielfalt der `Kaif-Motive der Atoin Meto verwirrt nicht nur den europäischen Betrachter. Auch den Atoin Meto scheint die Nomenklatur nicht mehr eindeutig definierbar zu sein, zu ähnlich sehen sich die Motive, und zu sehr laden sie zu Assoziationen ein. Fest steht allerdings, dass es eine Motivklasse `Kaif existiert, die sich durch regelmäßig wiederkehrende, stilistische Merkmale auszeichnet. Der `Kaif tola und der `Kai mnutu tola stehen in direkter Beziehung zueinander, wobei der `Kaif tola das Makromotiv, der `Kai mnutu tola das Mikromotiv bildet. Das Motivelement, das beim `Kaif tola die in vier Segmente gegliedrige, innere Raute bildet, ist beim `Kai mnutu tola mikroskopisch vergrößert dargestellt, sodass von mnutu gesprochen werden kann. Der `Kai mnutu tola bildet das Zentrum deutlich ab, das der `Kaif tola nur angedeutet. Außerdem zeigt dieses Motiv, wie der Schnittpunkt der Diagonalen intern strukturiert ist, die die innere Raute des `Kaif tola vierteln.
Der `Kaif tola bezieht sich symbolisch auf die Beschaffenheit der Peripherie (kotin, hinten, außen). Er fordert den Rezipienten dazu auf, das Zentrum (usan, innen) zu imaginieren. Dagegen erweitert der `Kai mnutu tola die Perspektive: er zeigt die Struktur des Zentrums, erfordert aber die mentale Visualisierung der Peripherie. Das Ikatmotiv `Kai koti `Kai nan kombiniert Reihen filigraner, nach innen und außen gekrümmter Haken und fasst auf diese Weise die Charakteristik der beiden anderern Motive zusammen. Der `Kai koti `Kai nan knüpft unmittelbar an die symbolische Klassifikation der Atoin Meto an, die innen und außen (nanan und kotin), Zentrum und Periphrie, mit weiblich (feto) und männlich (mone) in einer polaren, dynamischen Spannung verbindet. Gleichzeitig ermöglicht dieses Motiv imaginativ den Übergang in andere Bereiche der Atoin Meto Kultur, die von dieser symbolischen, kulturspezifischen Klassifikation mitgenommen werden. Mit Hilfe des `Kai koti `Kai nan kann auf einen anderen rituellen, sozialen und politischen Kontext übergegangen werden, sodass unterschiedliche kulturelle Bezugssysteme evoziert und verbunden werden können.
In die Motivgruppe `Kaif gehören verschiedene, eindeutig zuzuordnende Einzelmotive:

  • `Kaif tola und `Kaif mnutu tola
  • `Kai mnutu differenziert: `Kai mausa
  • `Kai manaka
  • `Kai koti `Kai nan

Über diese Klassifikation hinaus, die sich eines westlich analytischen Blicks bedient, lassen sich Bezeichung und Bedeutung dieses Ikatmotivs auch entsprechend Perspektive und Kontext gliedern, die ein Rezipient einnimmt. Ein einzelnes Motiv kann so verschiedene Ebenen ansprechen, die die Bezeichnung verursacht:

  • Bezieht er sich auf die Mikroebene, auf den filigranen Charakter des Motivs, so benutzt er den Namen ´Kai mnutu tola.
  • Bezieht er sich auf das Zentrum, den Nabel, des Motivs, lautet der Name `Kai mausa.
  • Bezieht er sich auf den Kopf des Motivs, auf den Tola, heißt es `Kai manaka` oder `kKai tola.
  • Bezieht er sich auf die nach innen und außen gekrümmten Haken, nennt er `Kai koti `Kai nan.

Neben der Bedeutung des `Kaif tola existiert eine weitere symbolische Ebene, die es ermöglicht, eine Beziehung des `Kaif tola zu einer anderen Motivklasse herzustellen: den Fut kauna-Motiven. Die formalen Ähnlichkeiten des `Kaif tola mit den Reptilien der Fut Kauna-Kategorie fallen bereits bei oberflächlicher Betrachtung auf. Der Kopf dieser Reptilien wird durch den Tola dargestellt. Diese Reptilien besitzen einen rautenförmigen, viergegliedrigen Körper, der oft mit Vogel-Motiven (fut kolo) oder weiteren Tola-Darstellungen gefüllt ist. Vergleicht man nun Kauna- und Tola-Motive, erscheint die Morphologie des `Kaif tola diesen Reptilien so ähnlich zu sein, dass dem `Kaif tola sein Reptiliencharakter nur schwer abzusprechen ist. Vielmehr muss von der formalen und inhaltlichen Verwandtschaft dieser beiden Motivklassen ausgegangen werden. Dieser Eindruck wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass der Tola als Kopf (nakan) oder deutlicher als `Kai manaka, einen Kopf besitzen, bezeichnet wird.
Wie Un, Baum, ist auch Nakan, Kopf, eine prominente Kategorie in der symbolischen Klassifikation der Atoin Meto. Am Beispiel des Nabuasa`-Klans erläutert Andrew McWilliam, dass deren räumliche Orientierung an einem body symbolism orientiert, einem nakan-usan-hain-Symbolismus (Kopf-Nabel-Fuß; 1989:94). Am Nabel befindet sich Nabuasa` als rituell-politisches Zentrum, an den zwei oder vier Positionen des Kompass siedeln die vier Usif oder, je nach eingenommener Perspektive, die vier Amaf der politischen Organisation. Entsprechend existieren textilie Motive, die aus einem zentralen Tola bestehen, an dessen vier Ecken weitere Tola angefügt sind. In diesen Kontext gehören auch die Tore, die in eins der vorindoneischen Reiche führten: das Ost-Tor an der Ostgrenze, das auch eno nakan genannt wird, sowie das West-Tor an der Westgrenze, das eon hain hieß. Auch der große Waringinbaum, der früher vor dem Ritualhaus (Uem Le`u) der Lineage wuchs, der Nunu nakaf, an dem die erbeuteten, getrockneten Kopftrophäen hingen, gehört in diesen Zusammenhang.
Die symbolische Klassifikation der Atoin Meto in Amanuban ordnet den Begriff Nakan auch einer Reihe anderer Bedeutungen zu wie Neonsaet (Osten) und Tunaf (Spitze, Blüte). Diese beiden Begriffe repräsentieren die im Osten aufgehende Sonne, den Himmel (neno) und ganz allgemein das Leben selbst (honis), eine Vorstellung, die als manuan (weit, ausgedehnt; vor allem von Siedlungsland) aufgefasst wird. Am gegenüberliegenden Pol dieser Klassifikation sammeln sich Begriffe wie Neontes (Westen, die untergehende Sonne), et a pinan (unten), hae (Fuß), pah (die Erde im Gegensatz zum Firmament) sowie mate (Tod), Vorstellungen die auch als ma`lenat (eng, begrenzt; vor allem von Siedlungsland und Existenzgrundlage) zusammengefasst ausgedrückt werden können. Nur soweit, und in aller Kürze, ein Beispiel für das semantische Feld, in das sich die beiden Motivkategorien Tola und Kauna einordnen lassen, orientiert man sich an dem Nakan, demjenigen Verzierungselement, das den Übergang von einem zum anderen Motiv möglich macht.

Die Atoin Meto kennen eine zoomorphe Gruppe, die sie Kauna nennen, in der sie Tiere zusammenfassen, die über bestimmte Merkmale verfügen, die in der westlichen Biologie in verschiedene Klassen gehören wie Reptilien, Amphibien und Insekten. Zu den Kauna gehören besonders Reptilien, die im Wasser und an Land leben, von denen ihre Mythologie berichtet, dass es ohne sie weder Wasser noch Land gäbe, und damit auch kein Leben auf der Erde: insbesondere das Krokodil (besimnasi) und der mysteriöe Wasserskorpion (oe kbiti), Uis Oel (Herr des Wassers) oder Uis Le`u (magisch potenter Fürst), denen die Atoin Meto numinose Gefühle der Furcht und Faszination entgegenbringen. Diese beiden Tiere leben in bestimmten Seen (nifu), die im Alltag sowie in den religiösen Überzeugungen der Atoin Meto eine prominente Rolle spielen. Diese besonderen Gewässer besitzen einen eigenen, rituellen Namen, der sie von allen anderen unterscheidet. Sie heißen Nifu binum batnes, Gewässer mit Inhalt, und spielen in den religiösen Überzeugungen eine besondere Rolle. Sie werden verehrt und gefürchtet. Der Inhalt, auf den sich die Atoin Meto mit dieser Bezeichnung beziehen, sind die wegen ihrer Fähigkeiten gefürchteten Bewohner, die als Gruppe zusammengefasst ihrer Indivdualität beraubt sind, denen aber die Ehrenbezeichnung Kopf des Wassers (oe le nakan) zusteht. In den sozialen und politischen Beziehungen ist nakan, Kopf oder Oberhaupt, eine respektvolle Bezeichung von politischen Funktionsträgern, denen es einst erlaubt war, Menschen zu töten oder ihnen Heil zu bringen.
In der Weltanschauung der Atoin Meto besitzt nakan ein umfangreiches und vielfältiges semantisches Feld, das sich über die sozialen, politischen und rituellen Aktiviäten dieser Kultur erstreckt. Die Erstlinge der Ernte werden als Kopf des Mais, Kopf des Reis (pena nakan ma ane nakan) bezeichnet. Die mündlichen Dichtungen, die anläßlich eines Totenrituals vorgetragen werden, vergleichen die Hinterbliebenen mit entrahmter Milch, von der die Sahne (nakan) entfernt wurde. Die in Fehde und Krieg erbeuteten Kopftrophäen hießen das junge Fleisch und der junge Honig (sis makuke ma oin makuke). Präsentiert am Uem Le`u, dem rituellen Zentrum von Haushalt oder Klan, nannte man sie Kopf des Honigs (oni nakan), in Anspielung auf das schwer zu erntende weiße Bienenwachs aus den Stöcken der Wildbiene. Noni nakan, Kopf des Silbers (Geldes), hieß einst der Tribut aus dem Wachs- und Sandelholzhandel an das rituell-politische Zentrum, den ansonsten die Amaf in eigener Regie durchführten und kontrollierten. Kuan in a nakan nannte man den Vorsteher einer Dorfgemeinschaft.
Mit Uis Le`u oder Fut Kauna wird in Amanuban eine bestimmte Motivklasse bezeichnet, die aus einer Vielzahl von Rautenvariationen besteht, ohne dass gleich ein Unterschied zwischen den verschiedenen Verzierungstechniken ersichtlich ist. In diese Motivklasse, die ich in einem anderen Weblog beschreiben werde, gehören konkrete und stilisierte Darstellungen von Reptilien, besonders das Krokodil, der Skorpion und eine Schlange, bei der es sich sehr wahrscheinlich um den heute selten gewordenen Felspython handelt. Nach indigener Überzeugung vereint der Charakter dieser Tiere numinose Gefühle und Ängste wie giftig, verehrungswürdig, schädlich und äußerst böse aus.

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