Sonntag, 5. Juli 2020

Krokodile in Timor


Ich habe lange darüber nachgedacht, in Amanuban viele Fragen gestellt und viel Unverständnis geerntet, weil ich mich für Dinge interessierte, über die man nicht gerne sprach. Jemand aus dem Westen, der fortschrittlichen, modernen Welt, jemand aus dem christlichen Abendland, das als vorbildlich gilt. Aber ich habe Hinweise gefunden und Bestätigung erhalten. Das Ergebnis ist mager, und muss durch Intuition und Schlussfolgerungen unterfüttert werden, durch manch bizarre Bemerkung aus der ethnographischen Literatur, die sich, nachgefragt, aufklärt. Nun ist es mit schriftlosen Kulturen viel zu oft so, dass bei der Rekonstruktion kultureller Überzeugungen und materieller Hinterlassenschaften wenige Spuren ausreichen müssen. Über die vorindonesische Kultur der Atoin Meto existieren keine schriftlichen Quellen, die ausgewertet werden könnten. Stattdessen müssen oft unscheinbare Fragmente, nur wenige Ruinen, zum Sprechen gebracht werden. Ein schwieriger Prozess, begleitet von Interpretationen, die manchmal fragwürdig klingen. Gelehrte Spekulationen, wie manche eine solche Vorgehensweise nennen, dürfen aber nicht den Versuch behindern, etwas Licht ins Dunkel von Überlieferungen zu bringen. Ansonsten entsteht wenig Sinn, und der Diskurs über die Bedeutung der Ikonographie der Atoin Meto bleibt ergebnislos, und ihre Er-Forschung kommt erst gar nicht in Gang. Damit ist niemandem gedient, weder der forschenden Neugierde des Ethnologen noch der Identität seiner Gastkultur. Immerhin habe ich auf diese Weise eine Vorstellung davon bekommen, was es mit den Motiven auf der Tracht der Atoin Meto auf sich haben könnte.

In den religiösen Überzeugungen dieser fast verstorbenen Kultur spielte das Krokodil einst eine bedeutende Rolle. Es wurde verehrt und gefürchtet. Eine gefährliche Echse, ein Menschenfresser, die numinose Gefühle der Ehrfurcht bewirkte. Schrecken und Faszination lagen nahe beieinander.
In Westtimor lebten einst zwei verschiedene Krokodilarten. Ich habe keine von ihnen mehr gesehen, obwohl gemunkelt wird, es gebe versteckte Seen, in denen sie noch leben, was in meinen Ohren sehr nach Loch Ness klingt. Das große Brackwasser-Krokodil, da ist man sich einig, ist verschwunden. Die kleinere Echse, von hellroter Farbe, soviel ich verstanden habe, einem Kaiman ähnlich, soll es noch hin und wieder noch geben. Diese wurde wegen ihrer Aggressivität sehr gefürchtet. Sie nennen es das dreifingrige Krokodil, weil es an jedem Fuß nur drei Klauen besitzt. Ob es sich wirklich um ein Krokodil handelt, ein rotes vor allem, das überlasse ich den Zoologen, denn eine bestimmte Spezies zu bestimmen, war mir nicht möglich. Möglich ist allerdings, dass die roten Opfertiere, die man dem Krokodil darbrachte, auf die Farbe des Tiers abgefärbt haben (Ten Kate, 1894:343). Bei dem anderen Krokodil handelt es wahrscheinlich um das Leistenkrokodil, viel größer und grün, mit fünf Klauen. Es ist das fünffingrige Krokodil, der Urzeitdrache, das viele Klans der Atoin Meto als ihren Urahnen verehrten. Ihm wurden Menschen geopfert, um ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu bestätigen, eine nicht richtig verstandene Vorstellung, die Ethnologen schon früh als Totemismus bezeichnet haben. Doch da der Begriff einmal in der Welt ist, und annähernd das bezeichnen kann, was die Atoin Meto mit dem Krokodil verbindet, will ich ihn unreflektiert verwenden.
Die Kosmogonie der Atoin Meto überliefert, dass Timor im Urbeginn ein Krokodil war. Dann kam Kune, keiner erinnert sich woher, eine Gründergestalt, wie die Kuh Auđumla in der nordischen Mythologie, ein Demiurg vielleicht, und legte das Land trocken. Vielleicht war Kune auch der erste Pah Tuaf, der erste Herr des Bodens. Jedenfalls nahm er als erster die große Echse in Besitz. Aus der rezenten Fauna Westtimors sind Krokodile, und auch der Felspython, der im Denken dieser Kultur eine ähnlich wichtige Rolle spielt, anscheinend verschwunden. Nur wenige behaupten das Gegenteil. Doch niemand konnte mir sagen, wo sie ihr Rückzugsgebiet haben. Erzählungen über Krokodile und Schlangen kannten sie aber alle.

Die Atoin Meto kennen eine Spezies, die sie Kauna nennen, ich habe das schon in einem anderen Blog erwähnt. Die alltägliche Einstellung der Atoin Meto zu einer Kauna ist ein Wegweiser, enthält sie doch manches, was die Beziehung dieser Kultur zu Krokodil und Python erklärt. Der Name Kauna bezeichnet eine Gattung, eine kulturspezifische Kategorie, eher eine religiöse, als eine zoologische. Sie ist uneinheitlich, fasst Arten zusammen, die in der westlichen Zoologie nicht zusammengehören. Doch die Atoin Meto beobachten an diesen Tieren bestimmte Merkmale, die es ihnen gestatten, sie in eine einzige Gruppe aufzunehmen. Diese Gemeinsamkeiten orientieren sich an der sehr unterschiedlichen Gestalt dieser Tiere, an ihrer relativen Nützlichkeit und ihrer Gefährlichkeit für den Menschen. Auf ungewöhnliche Weise klassifizieren sie Reptilien, Amphibien und Insekten miteinander, und geben ihnen nur diesen einen Gattungsnamen: Kauna.
Eine Kauna, gleichgültig ob sie im Wasser, lebt, auf dem Land, oder amphibisch zwischen beiden Biotopen wechselt, löst bei ihnen ambivalente Gefühle aus. Diese Gefühle schwanken je nach Art zwischen Anziehung, Furcht, Ekel, Verachtung und Abscheu. Dabei handelt sich um die unterschiedlichsten Tiere, die sich in erster Linie wirklich nicht dadurch auszeichnen, dass sie dem Menschen gefährlich werden. Viele von ihnen sind so klein, dass sie nur schwer zu sehen sind, viele hält man für giftig, verschlagen und hinterhältig, ohne dass sie es sind. Andere sind den Menschen an körperlicher Stärke weit überlegen, und sie stellen eine tödliche Gefahr für sie dar. Eine Kauna lebt nahe an der Erdoberfläche, liegt mit dem Bauch auf dem Boden, hat sehr kurze oder überhaupt keine Beine, sodass sie kriechen muss, und ist in den vielen Fällen nackt, ohne Fell oder Körperbehaarung. Manche haben dünne Gliedmaßen, chitinummantelt, die in streng abgegrenzte Segmente gegliedert sind. Auf jedem Fall hält man die Mitglieder der Kauna-Familie mehrheitlich für böse. Im Alltag fügen sie dem Menschen mehr Schaden als Nutzen zu, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, sich vor diesen Tieren zu schützen. Entsprechend ihrer Größe, des Biotops in dem sie leben, ihrer Gefährlichkeit oder ihrem Nutzen, gliedern die Atoin Meto die Kategorie Kauna in verschiedene Untergruppen. Die wichtigsten Attribute oder Qualitäten, nach denen sie diese Spezies klassifizieren, bilden die Paare groß / klein, Land / Wasser, gefährlich / ungefährlich, genießbar / ungenießbar. Undifferenziert verwenden sie für ihre Gliederung die Paare Kaun alekot und Kaun amle`ut: gute Kauna und böse Kauna. Natürlich drängt sich auch die christliche Überlieferung von der Schlange auf, die Gott verfluchte, auf dem Bauch zu kriechen. Nun ist die Anzahl und die kulturimmanente Vorstellung der Kauna in Amanuban zu tief verwurzelt, um allein anzunehmen, dass es sich um eine fremdkulturelle Entlehnung handelt. Vielleicht zwei Vorstellungen, die sich gut ergänzten und erweiterten.

Zu den großen Land-Kauna, den Kaun meto oder Kaun naek, die ungenießbar und gefährlich sind, gehört die Umeke, eine knapp unterarmdicke Schlange, die in den Gärten der Atoin Meto häufig anzutreffen ist. Niemand zweifelt an der Bösartigkeit und Ungenießbarkeit dieser Schlange. Die Angaben über ihre Gefährlichkeit, wie über ihre Farbe, schwanken in ihrer Bandbreite allerdings von giftig bis ungiftig. Von welcher Farbe die Umeke ist, kann ich nicht sagen, schwarz oder rotgelb gemustert. Entweder gibt es Unterarten oder eine Umeke hat schon lange keiner mehr gesehen.
Zu den kleinen, ungenießbaren und bösartigen Land-Kauna zählt die Masafolo, eine kleine giftige Schlange, sowie der Kbiti meto, der Skorpion, dessen Gift, das Wasser der Kauna, für den erwachsenen Menschen zwar nicht tödlich, dessen aber Stich unangenehm, da sehr schmerzhaft ist. Der Biss des Skorpions wird immer noch als Hinweis auf einen Verstoß gegen die Adat gedeutet, und als Strafe angesehen, für eine Vernachlässigung der Verpflichtung den agnaten Ahnen gegenüber. Der strafende Skorpion als verlängerter Arm der Ahnen, ein weiterer Beleg für die ambivalenten Gefühle, die man in Amanuban gegenüber einer Kauna hegt.
Die Usao, eine kleine, sehr dünne grüne Schlange, ist das giftigste Reptil, das die Atoin Meto kennen, die ebenfalls ihre Gärten aufsucht. Sie ist die gefährlichste Land-Kauna, da sie fast immer unbemerkt und unerwartet zustößt. Ihr Biss wird wegen der starken Schwellung der Bissstelle und der Schmerzen sehr gefürchtet. Es heißt allerdings, dass der Biss dieser Schlange nicht unbedingt tödlich sein muss, ihre Anwesenheit kündigt aber immer den Tod eines Menschen an.
Zu der Spezies der kleinen Wasser-Kauna gehören, nach indigener Auffassung, weitere ungenießbare und gefährliche Tiere. Der mysteriöse, nicht identifizierbare Kbit oel, ein in den Seen Westtimors angeblich lebender „Wasserskorpion“, soll an Gefährlichkeit nicht mit seinen an Land lebenden Verwandten konkurrieren können. Ihm sollen lediglich Zangen zur Verfügung stehen, mit denen er vielleicht, wie ein Krebs, kneifen kann. Er soll größer sein, als der an Land lebende Kbiti meto, und entwickelt eine Schnelligkeit und Wendigkeit, mit der sein Verwandter auf dem Trockenen nicht mithalten kann.
Ungenießbar und ungefährlich sind andere, kleinere aquatische Kauna: Beso, der Frosch, Nabnaba und Naf-nafa, zwei Spinnen sowie Atapane, eine Spinne mit auffallend großem Bauch.

Zu den großen Land-Kauna gehört auch der Felspython, Liuksae oder Kaun Le`uf genannt, die größte Schlange Westtimors. Wenn es sie überhaupt noch gibt, dann ist sie sehr selten geworden. Ich habe keine einzige gesehen, und niemanden getroffen, der in den letzten Jahren von einem Exemplar gehört hat. Ältere Atoin Meto glauben, dass in den Höhlen des Fatu Le`u, einem karstigen Felsen, auf halbem Weg zwischen Kupang und Soë gelegen, noch Pythons leben. In der Vergangenheit spielten sie bei der Aktivierung der Le`u musu, der Kriegsmagie, eine entscheidende Rolle. Der Fatu Le`u war bei Fehden und kriegerischen Auseinandersetzungen einst das rituelle Zentrum für die Aktivierung dieser Praxis, die von diesem Berg ihre magische Potenz bezog, und der deshalb diesen Namen trägt. Warum dies so ist, und welche Erzählungen sich um diesen Sachverhalt ranken, konnte mir niemand sagen. Dass es welche gibt, dessen bin ich mir sicher, denn die Hügel Tapan und Tuik Neno in Südamanuban, von denen ich in einem anderen Blogbeitrag erzähle, sprechen dafür.
Einst nahm der Python einen wichtigen Platz in den religiösen Vorstellungen und Mythen ein. Neben dem Leistenkrokodil ist sie das bedeutendste Tier in den Herkunftsmythen der Klane, Gruppierungen gleichen Namens (kanaf, wie ein Name), die das wirtschaftliche, soziale, rituelle und politische Leben der Atoin Meto weiterhin regulieren, und die mit totemistischen Überzeugungen einhergehen. Die beiden Morpheme im Namen dieser Schlange besitzen eine analogische Bedeutung. Im Klang von liuk schwingt le`u, numinos mit, und sae bedeutet, dass sie ihren Körper in alle Richtungen gleichermaßen geschickt bewegen kann. Wie das Krokodil gehört auch der Python zu den Tieren, die ihr Opfer mit ihrem Körper zu sich heranziehen können, indem sie mit dem Schwanz nach ihnen schlagen. Oberschenkeldick und bis zu zwei Metern lang, ist diese Schlange als Schweine- und Ziegendieb gefürchtet. Im ausgewachsenen Zustand verschlingt sie problemlos eine ganze Ziege oder ein Schwein, und ist dann für Wochen satt. In diesem Zustand ist sie am besten zu jagen, da fast bewegungsunfähig. Dem Python sagt man Bösartigkeit nach. Man erzählt sich, dass er Menschen angreift, wenn er hungrig ist, sie verfolgt, mit ihrem beweglichen Hinterleib nach ihnen schlägt, und sie zu Fall bringt. Die Geschwindigkeit, die beide Tiere dabei entwickeln sollen, ist schwer vorstellbar, für die Atoin Meto aber problemlos gegeben. Gleichzeitig hält man den Python für einen Wohltäter des Menschen, einen Demiurg. Man hielt ihn einst für den Repräsentanten von Uis Pah, der personifizierten, verehrten Erde, ohne deren Mitwirken es keine Ernte in den Gärten gibt. Unter ihrem anderen Namen, Uis Meto, ist er der Herr des trockenen Landes, wie das Krokodil das Wasser beherrscht. Erschlug jemand einen Python, verpflichtete ihn die Adat, ihn in einen Mau, eins der großen Umschlagtücher, eingewickelt zu begraben. Wer dies versäumte, den quälten Albträume solange, bis er schließlich daran starb.
Die Überlieferung von der Ankunft Nopes, der die letzte, Jahrhunderte bestehende Dynastie Amanubans gründete, spricht von der Koko, einer großen, gehörnten Schlange mit einem leuchtenden Objekt auf der Stirn, von der ich nicht erfahren konnte, ob sie ein Pendant ohne Hörner in der Realität besitzt.

Doch zurück zum Krokodil, dem Prototyp der Kauna-Motive der Tracht der Atoin Meto. Das Krokodil ist Uis Oe, der Herr des Wassers. Es war nicht nur der Boden, auf dem die Atoin Meto lebten, es war auch ein Ahne. Der niederländische Reisende und von der Kultur Westtimors faszinierte A. C. Kruyt stieß bei seinem Aufenthalt in Amarasi, im frühen 20. Jahrhundert, auf einen eigenartigen Vertreter der Gattung Kauna, den Uis Oe Kbiti, der als Heer Skorpionvisch Eingang in die ethnographische Literatur fand. Nun ist zu bedenken, dass Heer im Niederländischen auch Fürst bedeuten kann, und Uis, Fürst, eine Ableitung vom javanischen Gusti ist, so haben wir es bei dieser Kauna mit einer hochgestellten Kauna, einer Kauna von Adel zu tun. Auch die Übersetzung Vish, Fisch, ist problematisch, denn die Kultur der Atoin Meto ist eine dem Meer abgewandte, deren Vokabular kein Wort für Fisch kennt. Ika, im Alltag in Amanuban verwendet, ist ein indonesisches Lehnwort. Entweder ist Kruyts Wasserskorpion ein dubioser Krebs, ein Fabelwesen oder Monster oder er führt auf eine ganz andere Spur. Johanis Nahak, dem ich vieles verdanke, will Kruyt nicht folgen, und fragt, ob der Fürst Wasserskorpion nicht das Krokodil sein kann. Zumindest ist jemand, so argumentiert er, der den Titel Uis trägt, ein mächtiger Mann, jemand, vor dem der einfache Mann Respekt und Ehrfurcht empfindet, und der einst über Leben und Tod bestimmen konnte. Wer auch immer Uis Oe kbiti sein mag, in der textilien Ikonographie der Atoin Meto ist er präsent. Als „Wasserskorpion“ repräsentiert er das als Totem verehrte Krokodil.
Im Vokabular der rituellen Rede heißt Uis Oe, das große Leistenkrokodil, Besimnasi, ein ungewöhnlicher Name, der vielfältige Assoziationen weckt. Die Bedeutungsvielfalt ist umfangreich, sodass der Eindruck entsteht, kulturelle Amnesie ergänzt Fehlendes durch farbenprächtige Konfabulationen. Aus der Alltagsprache stammt dieser Name der Riesenechse anscheinend nicht. Es ist mir nicht gelungen, einen eindeutigen Namen zu erfahren, denn Besimnasi nur zu erwähnen, erzeugt eine unangenehme, peinliche Stille. Budaya, sagen die meisten dann, aber das ist Indonesisch. Besimnasi, Alter, verehrter Besi, als Anrede des Krokodils ist im Alltag tabuisiert, und es ist nach wie schwierig, darüber zu reden. Der Titel ist zu gefährlich und mit heißer Energie aufgeladen, die den Menschen schadet. Altes Wissen, kultureller Untergrund, schlummert hinter der Rede. Auch Besi ist ein schillerndes Wort, das zwar an das malaiische Wort für Eisen (besi) erinnert, mit diesem aber erst einmal nicht viel gemein hat. Im rituellen Register der Atoin Meto hat besi nichts mit dem Metall oder dem Werkstoff Eisen zu tun. Seine Bedeutung muss also anderswo gesucht werden. Anfangs habe ich mich gefragt, warum eine so wichtige Gestalt in Religion und Mythologie mit einem Lehnwort bezeichnet wird. Eine Antwort habe ich nicht gefunden. Doch es steckt mehr dahinter, als eine klangliche Assoziation. Die Bedeutung von zwei Worten verschmolz anscheinend miteinander, ein ursprünglicher Begriff ging möglicherweise verloren, die Vorstellungen von Hitze, Eisen, Härte und Panzerung bilden eine Brücke. Bedenkt man außerdem, dass die Atoin Meto nie Eisen verarbeiteten, und die Produkte nur über den interinsularen Sandelholzhandel, der außerdem in den Händen des Adels lag, kennenlernten, wen wundert es, dass sie magische Assoziationen an diesen Werkstoff knüpften. Als ihr Denken noch magisch geprägt war, empfanden sie die Haut des Krokodils als hart wie Eisen. Undurchdringlich, unverwundbar, denn mit ihren einfachen Waffen war das Reptil schwer zu töten. Das änderte erst die Einfuhr eiserner Waffen. In ihren Vorstellungen war die Echse ein Magier, der über eine mächtige Le`u verfügte.
Das Konzept der Le'u musu verbindet Fehde, Krieg und Tod mit der Vorstellung einer krankmachenden, lebensbedrohlichen und gefährlichen Hitze, die die Gemeinschaft zerstört. Der Wunsch, am Schutz der eisenharten Haut des Reptil zu partizipieren, klingt dann nicht mehr weit hergeholt. Die Faszination der eisenharten, unverwundbaren Haut des Reptils teilen die Atoin Meto mit anderen Kulturen. Der Glaube an die Existenz von Drachen, verbunden mit Feuer, Hitze, Panzerung und Zerstörung, wird uralt sein. Zu allen Zeiten hat er auf die religiösen Überzeugungen der Menschen inspirierend gewirkt. Ich muss nicht erst an die nordischen Berserkr erinnern, die vom Furor teutonicus ergriffen und berauscht von ihrer Unbesiegbarkeit und Unverwundbarkeit überzeugt in die Schlacht stürmten, und ihre Feinde mit blankem Entsetzen schlugen, weil diese an die Wirksamkeit der gleichen Kräfte glaubten. Die Hrolfs Kraka Saga bietet für diese Überzeugung ein anschauliches Beispiel. Und wer etwas mehr über die bannende Macht von Drachen wissen will, und sich nicht scheut, Mythenabbrevationen kreativ weiter zu spinnen, nur des besseren Nachvollzugs wegen, um was es hier geht, der findet in John R.R. Tolkiens Kunstsaga Turin Turambar ein gutes Beispiel. Dass Wissenschaft und Fantasie nur zwei Seiten einer Medaille sind, demonstriert Tolkiens Beowulf-Eassy Die Wissenschaft und ihre Monster. Erinnern wir uns noch an unsere eigen Mythen und Märchen? Drachen gehörten wie selbstverständlich in unsere kindlichen Vorstellungen, und immer jagte ihr Auftritt uns einen Schauer über den Rücken, zitterten wir mit dem Helden um das Leben der Prinzessin. Warum fällt es uns heute, erwachsen geworden, so schwer, den Kern unserer eigenen Mythen, Sagen und Märchen zu akzeptieren? Nicht nur Siegfried hat geglaubt, in Fafnirs Blut baden zu müssen, um unverwundbar zu werden. Der Krieger-Kopfjäger der Atoin Meto träumte den gleichen Traum. Die christliche Mission und der indonesische Zentralismus haben in Amanuban viel altes Wissen zerstört, aber Reste finden sich noch immer. Oft kommen sie in einem absonderlichen Kostüm daher. Ich habe viele dieser Fragmente und Abbrevationen mit der Literatur verglichen, die wir H.G. Schulte Nordholt und P. Middelkoop verdanken, und so manch Erstaunliches gefunden, wie auch die Bezeichnung Meo ao besi, wahrscheinlich der Titel eines Krieger-Kopfjägers der Vergangenheit, der Wohltäter der Gemeinschaft und meuchelnder Attentäter war.

Der Meo ao besi war der Krieger-Kopfjäger mit der eisenharten Haut, die seinem Körper Unverwundbarkeit garantierte. Ein Krieger, erst recht der aus dem Verborgenen plötzlich tötende Kopfjäger, löst Gefühle aus, wie sie einer Kauna entgegengebracht werden, insbesondere Schrecken und Entsetzen. Er ist menas, rituell aufgeheizt, und mit schädlicher Potenz aufgeladen. In der symbolischen Klassifikation der Atoin Meto ist alles Gefährliche, Kranke und Schädliche menas, und steht in Spannung mit der erfrischenden Kühle von Leben, Gesundheit und Harmonie. Mainikin und Menas bilden eine Polarität der Entsprechung und Ergänzung. Das eine kann nicht ohne das andere sein. Zuviel mainikin erfordert menas und umgekehrt, weil ein Zuviel, ein Übermaß (nesin) von etwas, schadet. Wer die extremen, übergangslosen Phasen von Trockenzeit und Regenzeit im Westen Timors kennt, dem drängen sich die klimatischen, vom leiblichen Spüren abgeleiteten Konnotationen dieser Vorstellung auf. Und so existieren eine Reihe von Ritualen, des Lebenszyklus, der Landwirtschaft, des Hausbaus und des Krieges, die für den verträglichen Ausgleich dieser beiden Sphären sorgen, um der Gemeinschaft Gesundheit, Wohlergehen und Frieden zu garantieren. Einst gab es in dieser Kultur nichts Wichtigeres, als die Balance der kühlen und heißen Energien innerhalb der Gemeinschaft, die kosmisch interpretiert wurden. Ihre Gewährleistung war ein religiöser Akt.
Der zur Verbreitung von Zerstörung, Raub, Vernichtung und Tod rituell aktivierte Krieger-Kopfjäger partizipierte an dieser heißen Sphäre. In einem Ritual, Nai Napit genannt, das noch in kolonialer Zeit den Zusammenhang von Eisen, Hitze und Unverwundbarkeit beschwor, wurde der Meo magisch aufgeladen, sodass er so heimtückisch töten konnte, wie sein Alter Ego, das Krokodil. Nai Napit befähigte den Krieger-Kopfjäger sein Opfer magisch zu beeinflussen, zu bannen und ihm seine Widerstandskraft zu rauben. Der Schreck, der plötzlich und unerwartet aus dem Hinterhalt wie eine Kauna auftauchende Kopfjäger, das Grauen und Entsetzen, das das Opfer ergriff, bewirkten ein Gefühl des Ausgeliefertseins verbunden mit einem Erlahmen der Widerstandskraft. Der Titel Meo führt diesen Sachverhalt im Namen. In der Alltagssprache bezeichnet man Katzen so, diese hinterhältigen, auf Beute lauernden Schleichräuber. Auch der Name der magischen Praxis ist höchst interessant, im Kern bedauerlicherweise unverstanden geblieben. Nai ist ein Titel, den bedeutende Persönlichkeiten des politischen Lebens führten, eine Art Big Man, bevor der Titel Usif aus dem Westen des Archipels eingeführt wurde. Fürst Napit muss übersetzt werden, die magische Praxis damit personifiziert, sodass der Meo eine persönliche Beziehung mit dieser Potenz eingehen konnte. Vorausgesetzt, diese Annahme stimmt, dann handelt es sich bei Nai Napit um eine Le'u musu, eine Kriegsmagie, die wie vieles in diesem Zusammenhang zum esoterischen Wissen des Klans gehört. Die synonymen Termini mate lan besi, der schlimme Tod, sowie mate nai napit, der Tod durch Nai Napit, erinnern an die Vorstellung, dass ein schlimmer Tod durch die Einflussnahme unsichtbarer Mächte im heißen Draußen verursacht wird. Während seiner Aktivierung verfügte der Krieger-Kopfjäger über außergewöhnliche magische Qualitäten und Fähigkeiten. In diesem Zustand war er selbst für seine eigene Gemeinschaft gefährlich, und musste isoliert werden. Insbesondere war ihm Geschlechtsverkehr untersagt, da die Fruchtbarkeit der Frau bedroht war. Seine Potenz verdankte er seiner Le`u musu, die ihn als Partialpersönlichkeit auf seinem Raubzug begleitete. Sie sorgte dafür, dass sein Opfer, dessen Kopf sein Interesse galt, durch ihre magische Energie machtlos wurde: Es erstarrte vor Furcht. Diese Fähigkeit besitzt auch das Krokodil, Besi mnasi, der Alte bannende, das sein Opfer hypnotisch in seinen Bann zieht, ihm die Initiative raubt, blitzschnell mit dem Schwanz zuschlägt, um es widerstandslos in sein aquatisches Reich zu ziehen.

Auch der Mnane, den die niederländische ethnographische Literatur Priester nennt, wahrscheinlich aber ihr Schamane, unterhielt eine geheime Beziehung zum Krokodil. Doch wer weiß das noch, denn es gibt ihn schon lange nicht mehr. Aber man erinnert sich noch daran, dass er hat seinen Kopf (nakan) beim Krokodil hatte und meint damit, dass die Echse ihm Visionen und Träume schickte. Er ist verwandtschaftlich mit der Echse verbunden. Diese Vorstellung erinnert an ein Ritual der Ngadju Dayak im Südwesten Kalimantans. Der Kopfjägernovize schläft in der Nacht vor seinem ersten Raubzug unter einem ikatgemusterten Pua Kombu, der ihn von seiner bevorstehenden Kopfjagd träumen lässt. Anscheinend wählte das Krokodil beide Adepten aus, ein Berufungserlebnis im Rahmen einer Initiation, was zu deren Hellsichtigkeit führte, aber auch an den Schamanen erinnert. Der Mnane der Atoin Meto blieb am fünffingrigen Krokodil hängen, heißt es darum, und er ist nicht der einzige, dem dies einst widerfuhr. Die psychische Beziehung zwischen Mensch und Krokodil muss als sehr eng vorgestellt gewesen sein. Eine Erzählung berichtet davon, dass ein Mann, der einen im Fluss trinkenden wilden Büffel erschießen will, versehentlich aber ein auf einer Sandbank liegendes Krokodil trifft und es am rechten Auge verletzt. Seit diesem Ereignis besitzt der Mann selbst ein vorstehendes rechtes Auge wie ein Krokodil.
Der Mnane unterhält ebenfalls intime Beziehungen zu der in den Höhlen der Kalkfelsen lebenden Python. Er fütterte sie, und bat auch sie um visionäre Träume, die ihm bei der Krankenheilung halfen.

Die allgemeinste Bezeichnung für die patrilinearen Ahnen der Atoin Meto lautet be`i, eine Bezeichnung, die Besi im Klang trägt. Die phonetische Ähnlichkeit von Besimnasi und Be`i mnasi, verehrter Ahn, eignet sich gut für analogische und sympathische Spekulationen, für Wortspielereien, ein Mechanismus, der der rituellen Rede der Atoin Meto ohnehin eigen ist.
Be`i Nai, die verehrten Großmütter und Großväter, bilden das Kollektiv der Ahnen. Ein Adelshaus in Miomafo, der einst mächtigste Klan Senak, tradiert eine mythische Erzählung: Eine Tochter des ersten Senak hieß Bikomi. Sie wandelte ihre Gestalt und wurde ein Krokodil. So gab die Prinzessin der ganzen Region ihren Namen. Seitdem ist das Krokodil für die Senak tabu. Die Klanmitglieder wickeln tote Krokodile, wie ihre eigenen Verstorbenen, in gemusterte Textilien und begraben sie wie einen Verwandten. Eine andere mythische Erzählung aus Bikmela in Fatu Le`u berichtet von einer Vollmondnacht in der Krokodile erschienen, ihre Haut ablegten, um in menschlicher Gestalt an einem Tanz – einem Ritual? - teilzunehmen. Bei Tagesanbruch warfen sie sich ihre Krokodilhaut wieder über, griffen die Einwohner des Dorfes an und verschlangen sie. Gestaltwandel ermöglicht es dem Krokodil menschlich aufzutreten.
Besimnasi, der Alte Besi, der im Wasser lebende Uis Oe (Kbiti), beanspruchte Menschenopfer. Früher, bevor die Atoin Meto Christen waren. Jährlich fanden Feste statt, die in einem rituellen Menschenopfer an das Krokodil kulminierten Ein französischer Ingenieur, den Pieter Middelkoop erwähnt, wurde ungewollt Augenzeuge. Er will im 17. Jahrhundert anwesend gewesen sein, als die Tochter eines adeligen Klans dem Drachen im See geopfert wurde. Ein Prinz, ein Theseus oder Sigfrid europäischer Sagen und Märchen, der die Jungfrau im letzten Moment rettet, war nicht zugegen. Die geopferte Prinzessin wurde als privilegiert betrachtet. Von ihr wurde behauptet, sie sei an dem fünffingrigen Krokodil hängen geblieben. Sie heiratete die Echse, und man nahm an, sie ging in ein aquatisches Reich ein, wo das Krokodil in Hallen sagenhafte Schätzen hortete. Wer denkt dabei nicht an die zahlreichen Jungfrauen unserer eigenen Folklore. Im Gegenzug erhielten die Menschen vom Krokodil die Nahrungspflanzen, Büffel oder reiche Schätze, und es gibt vereinzelte Hinweise, die darauf schließen lassen, dass das Krokodil auch als Demiurg betrachtet wurde. All das klingt nur im Märchen romantisch. Die Wirklichkeit war schrecklich. Gut möglich, dass dieser Bericht echt ist, er wäre den Überzeugungen ostindonesischer Kulturen nicht fremd. Vielleicht handelt es sich auch nur um den bewussten Versuch, den Atoin Meto im Sinne sozialdarwinistischer Theorien Zivilisation und Menschlichkeit abzusprechen; nach dem Motto: Die Kannibalen sind immer die anderen. Es wäre kein Einzelfall. Allerdings ist auch wahr, dass die Timor-Kulturen eine Reihe von Märchen und Sagen kennen, in denen Krokodile in diesem Rahmen auftreten. Solche Überlieferungen gehören zum esoterischen Wissen einzelner Klangruppen, dass geheim gehalten wird. Der letzte Sonba`i-Raja zählte solche Ereignisse zu den Geheimnissen des Nono-Zyklus seines Klans, den Ritualen des Kreislaufs des Lebens, die keinem Außenstehenden zugänglich gemacht werden dürfen. Selbst über sie zu sprechen, war ihm verboten. Totemismus? Ein So-könnte-es-gewesen-sein. Es ist mühsam, aus den Splittern ein zusammenhängendes Bild zu gewinnen. Eine eigenartige Vorstellung: Krokodile als Verwandte, aber letztlich auch nicht befremdlicher, als das in den gotischen Kathedralen unserer eigenen Kultur dargestellte Bestiarium.

In der Ikonographie der Tracht der Atoin Meto haben diese Vorstellungen und Überzeugungen überlebt, das Krokodil (sicher) in den hakenbewehrten Rautenvariationen, der Python (vielleicht) in den filigranen Bändern, die die Haut der Schlange imitieren. Die braunen Muster der Pythonhaut werden im Volksmund Blüten (sufan) genannt, denen sie gleichen. Diese Motive finden sich zahlreich variiert auf ihren Textilien.

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