Samstag, 14. März 2020

Textilmanufaktur Mellu


Ich kam nach Amanuban, um die Bedeutung der Ikonographie der Tracht der Atoin Meto zu verstehen. Es muss Ende der 1970er Jahre gewesen sein, ich befand mich mitten in meinem Studium der Völkerkunde an der Albertus-Magnus-Universität zu Köln. Waldemar Stöhr war damals Kurator am Rautenstrauch-Joest-Museum und mit Ostindonesien befasst. Von ihm stammt die spannende Studie über die altindonesischen Kulturen, die mich beeindruckt und beeinflusst hat. Und auch die Ausstellung über diese Kulturen war sein Werk, ganz oben, fast verstaubt, unter dem Dach des Museums untergebracht. Ich war damals noch naiv und unerfahren, glaubte, ein Studium der Völkerkunde habe mit Abenteuern in fremden Ländern zu tun, dachte wahrscheinlich an Reisende, Forscher und Entdecker, an eine Mischung aus 1001 und eine Nacht, an Fenimore Cooper, F. Gerstecker oder Karl May in Personalunion. Das war am Anfang dieser Disziplin nicht viel gewesen, in 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ende des 20. Jahrhunderts hatten die dürren Fakten über die Inspiration gesiegt. Das Fiktive, Imaginäre, Visionäre und Mysteriöse, da weder wirtschaftlich noch politisch verwertbar, führte in der Ethnologie nur noch ein Schattendasein. Lediglich seinen Unterhaltungswert leugnete man nicht.

Ich war damals auf der Flucht vor der Sozialarbeit in einem Jugendzentrum, selbst noch viel zu jung, für diese Herausforderung. Was es wirklich bedeutet, Ethnologe zu sein, fernab jeder Idealisierung, begriff ich erst viel später. Der Numerus Clausus für das Fach Völkerkunde betrug zu dieser Zeit 1.9 und lag jenseits meiner Möglichkeiten. Also begann ich mein Studium am Fachbereich Ur- und Frühgeschichte. Als eine der ersten Besonderheiten lernte ich von Gerhard Bosinski, dass es keine Vorgeschichte gibt, und Geschichte nichts mit Schrift und schriftlicher Überlieferung zu tun hat. Eine wichtige Überzeugung, ein Pfeiler meiner späteren Beschäftigung mit den mündlichen Dichtungen ostindonesischer Kulturen. Nach bestandener Zwischenprüfung wechselte ich stolz zu den Völkerkundlern, tauschte Geologie gegen Malaiologie, und hatte alles zusammen, was Jahre später nach Amanuban führte. Den Atoin Meto, die in Waldemar Stöhrs Präsentation noch die Atoni aus Westtimor waren, begegnete ich erstmals auf den historischen Fotos in seiner Ausstellung. Sehr fremd, sehr archaisch, wirkten die Menschen auf diesen Fotos auf mich. Männer mit Haarknoten unter einem Lopo, ich sehe das Bild noch heute vor mir.
Als Gisela Völker und Karin van Welck 1984 die große Ausstellung Indonesische Textilen im Museum kuratierten, war ich zur Stelle. Anschließend gingen mir die eigenartigen Rauten, die die Aroin Meto in ihren Geweben realisierten, in Holz und Bambus ritzen und auf ihre Haut tätowierten, nicht mehr aus dem Sinn. Und auch eine Bemerkung im Museumskatalog nicht: Es scheint jedoch, dass die Ornamentik der Textilien sich in erster Linie nach der territorialen und politischen Einheit richtete, und Rangunterschiede eher an einer reicheren und sorgfältigeren Musterung, als an spezifischen Ornamenten erkennbar waren. Ein niederländischer Kolonialbeamter, H.G. Schulte Nordholt, der viele Dienstjahre in Insana, Nordzentraltimor, verbrachte, machte diese Beobachtung bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, publizierte sie aber erst 1971, nach seiner Rückkehr nach Europa. Seitdem nichts Wesentliches mehr. Als ich 1988 meine Magisterschrift über die Textilien der Atoin Meto vorlegte, lag über Timor ein Schweigen, wie seit der vorkolonialen Epoche nicht mehr. In den 1980 Jahren hatte ich alle Informationen über die Kultur der Atoin Meto zusammengetragen, die ich in westeuropäischen Bibliotheken und Museen finden konnte. Schulte Nordholts Randbemerkung über die Bedeutung der Muster auf der Tracht der Atoin Meto setzte den Endpunkt. Die rätselhafte, beinahe mysteriöse Stille danach reizte meine Fantasie und provozierte meinen Wissensdurst. Meine Neugier war nicht nur aufgescheucht, sie war aufgeweckt. Ich spürte die Verlockung wie ein süßes Kribbeln unter meiner Haut.

Die Herstellung von Textilien ist in Amanuban den Frauen vorbehalten. Die Entwicklung von gewebten Motiven stellte einst ein bevorzugtes Prestigesystem dar, parallel zur Kopfjagd der Männer. Einst fand die Weberei dort statt, wo der Mann den Status eines Gastes hatte; im Inneren der Wohnung, im Atrium, der weiblichen Sphäre von Geburt, Lagerung der Ernte und Tod. In der Gebärmutter Amanubans, wie Mesakh Banamtuan das bienenförmige Rundhaus nennt, das Ume kbubu, die Wohnung der Familie. Diese Vorschrift kommt dem modernen Atoin Meto zwar kurios vor, vergessen hat er sie noch nicht.
Mit Ausnahme weniger homophiler Weber, ist das Weben in Amanuban noch immer Frauensache. Die Frauen in den Dörfern weben eine leuchtende, farbenprächtige Kleidung, deren ausdrucksvolle Ikonographie einen bemerkenswerten Reiz auf das eher an Grautöne gewöhnte Auge des westlichen Betrachters ausübt. Die Attraktivität dieser Kleidung kommt in den Monaten der Trockenzeit am besten zur Geltung, wenn das wellige Hügelland mit seinen schroffen Felsauswüchsen von der gleißenden Sonne zu einer rotbraunen Kruste gebrannt wird.
Farbige, von roten Streifen dominierte Gewebe sind mit indigo-weiß gemusterten Ikatpartien kombiniert, deren visuelle Eindringlichkeit einen geradezu schrillen Kontrast zur scheinbar endlosen Eintönigkeit der Landschaft bildet. Schon aus weiter Ferne ist der Signalcharakter der farbigen Motive zu erkennen, woher jemand kommt und welcher sozialen Gruppe er angehört. Mit diesen Vorstellungen traf ich Anfang 1990 in Westtimor ein, und musste bald feststellen, dass die Literatur mehr wusste, als die modernen Produzenten und Konsumenten dieser Textilien. Zwar war es jedem Atoin Meto, den ich fragte, bewusst, dass es sich bei der Musterung ihrer Tracht um ein charakteristisches Kulturmerkmal handelt. Was sie bedeutet, und welche Rolle sie bei der Sicherung ihrer ethnischen Identität spielt, verstanden die wenigsten. Explizites Wissen gab es kaum, latentes Wissen war, wenn vorhanden, nicht greifbar. Was den Atoin Meto mit seinen Textilien und deren Ikonographie verband, lässt sich noch am ehesten mit dem numinos ehrfürchtigen Gefühl vergleichen, dass mich beim Anblick der in Stein gemeißelten christlichen Symbolik einer gotischen Kathedrale ergreift. Ich spüre, dass sie etwas mit mir zu tun hat, ein vertrautes Gefühl, aber erklären kann ich, wenn überhaupt, nur ein paar Fragmente.

Vor einer Woche lernte ich Jeremia Mellu kennen. Er war mein Ausgangspunkt, mein erster, noch enthusiastischer Schritt auf meinen Forschungsgegenstand zu. Vor zwei Jahren hat J. Mellu eine Kelompok Kerajinan in Niki Niki gegründet, eine Textilkooperative, die aus 212 Mitgliedern besteht. Bis zu zehn Frauen bilden eine regionale Arbeitsgruppe in mehreren Dörfern in Südzentraltimor. Sie produzieren in Heimarbeit tradionell gefertigte, gemusterte Gewebe für den Verkauf auf lokalen Märkten. Ein Teil ihrer Stoffe wird zu Hemden und Jacken in westlichem Schnitt verarbeitet. Nach dem Vorbild der javanischen Batikkleidung, als guter Anzug, bei Bürokraten und Politikern der indonesischen Administration äußerst beliebt. Was dem Javaner seine Batik, ist dem Atoin Meto sein Ikat. In der Kelompok Kerajinan Mellu in Niki Niki arbeiten fünf Frauen täglich von 8 - 13.00 Uhr. Die Frauen in den Dörfern, die auf verschiedene Webtechniken spezialisiert sind, erhalten unregelmäßig Aufträge, entsprechend der Nachfrage nach diesen Stoffen. J. Mellu sagt mir sofort Unterstützung zu, als sei das überhaupt keine Frage. Er redet in einem fort und verspricht alles, ohne auch nur einen Moment nachzudenken, um zu verstehen, worum es mir geht.
Ein paar Tage später sitzen wir um seinen Wohnzimmertisch versammelt. Jeremia Mellu bestand auf einem Gruppengespräch. Er hat meine Gesprächspartner sorgfältig ausgewählt. Nach ihren Kenntnissen und Erfahrungen, und nach ihrer unterschiedlichen sozialen Schicht, hat er sie eingeladen: eine Frau und einen Mann, beide ältere Atoin Meto, in traditionelle Tracht gekleidet. Und den Kepala DEPDIKUD der Provinzregierung von Soë, Jusuf Boimau, ein Militär Mitte Fünfzig, in Uniform, der politische Macht und informellen Einfluss in einer Person verbindet. Jusuf Boimau gehört zu einer der einflussreichen alten Namengruppen in Südzentraltimor. Er ist indonesischer Offizier und Verwaltungsanstellter in führender Position und Atoin Meto. In der indonesischen Admistration ist es unüblich, die Mitarbeiter der Bürokratie in ihrer Herkunftsregion einzusetzen. So entsteht eine ethnische Grenze zwischen dem Personal der politischen Institutionen und der indigenen Bevölkerung, die deren soziale und politische Organisationen von der politischen Herrschaft ausschließt. Den Atoin Meto von Amanuban steht eine fremdethische politische Elite kontrollierend und organisierend gegenüber. Der intellektuellen Elite der Atoin Meto bleibt nichts anderes übrig, als in den kulturellen Untergrund zu gehen, um ihre eigenen politischen Strukturen zu bewahren, und um ihre Überlieferungen zu pflegen und zu inszenieren. Jusuf Boimau bildet eine der Ausnahmen von dieser Praxis.
Als ausgewiesene Experten und Praktiker der Atoin-Meto-Weberei stellt J. Mellu seine beiden anderen Gäste vor: Otniel Be`es, einen homophilen Weber aus Niki Niki, und Marcelina Sae`, Hofweberin und Bedienstete in Nesi Nopes Palast in Niki Niki. Mein Gastgeber hört sich gerne reden, und ich kann meine Fragen kaum stellen. Auch die beiden Experten bekommen nur dann Gelegenheit sich zu äußern, wenn J. Mellu um Bestätigung heischend zu ihnen blickt. Sie sitzen still und bescheiden in die Kissen der Coach gelehnt, nippten hin und wieder an ihrem Tee und lauschen J. Mellu, der mit ausholenden Gebärden referiert. Immer dann, wenn er einen neuen Gedanken fasst, führt er seinen rechten Zeigefinger mit nach oben geöffneter Handfläche in kreisender Bewegung an die Stirn. Sein Vortragsstil hat mich so beeindruckt, dass ich ihn noch immer lebhaft vor mir sehe. Was er über die Weberei in Amanuban wusste, dagegen nicht. Jerimia Mellu ist ein einflussreicher Mann, inzwischen Mitte Fünfzig. Vor Nesi Nope war er der Bürgermeister von Niki Niki. Seine Haare sind schütterer geworden, auf dem Vorderhaupt hat er sie schon ganz verloren. Ein gelbes Hemd unter einer blauen Windjacke, lange braune Hose und schwarze, frisch geputzte Halbschuhe; keine Strümpfe. Kein Kleidungsstück weist ihn als Atoin Meto aus. Er ist auch keiner, denn er istin Rote geboren. Ein modernern, nationalbewusster Indonesier.

Wir sitzen in einem hellen Raum, der mich an die deutschen Wohnzimmer in den 1950e Jahren erinnert. An die Wohnung meiner Eltern, die Möblierung, die Atmosphäre alles das, was für mich lange Zeit Inbegriff deutschen Kleinbürgertum war: Couchtisch, Sessel, ein Sofa und der mehrtürige Wohnzimmerschrank, aus Eiche musste er sein, in dem das Gute aufbewahrt wurde, das nur bei Besuch herausgeholt wurde. Über dem Sofa die Reproduktion eines Gemäldes eines berühmten Malers oder eines einheimischen Landschaftsmalers. Wenn es ganz schlimm kam, die rassige Zigeunerin mit üppig ausgestelltem Busen, der uns Heranwachsende das Herz höher schlagen ließ, oder ein röhrender Hirsch vor bewaldeter Bergkulisse. Über dem Tisch ein Kronleuchter, darunter der reich gemusterte Teppich mit dickem Flor. Nippes besetzte jede freie Stelle.
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, ich war gerade erst in Soë eingetroffen. Hendrik Billik, mein Nachbar und Bruder meines Vermieters, begleitete mich zu einem offiziellen Besuch, vielleicht zum Rukun Wilayah von Oebesa. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Bild von Westtimor zusammenbrach. Mikhaels Wohnungseinrichtung war modern, mit westlichen Elementen, aber immer noch indonesisch. Jetzt saß auf einem großen grünen Plüschsofa ein älteres Ehepaar, westlich gekleidet, beide übergewichtig. Mein erster Besuch bei Soës Oberschicht zerstörte meinen letzten Rest romantischer Verklärung. Als ich meinen Schock und meine Enttäuschung überwunden hatte, fand ich mich in der Wirklichkeit wieder. Die Wohnung in Oebesa sah nur oberflächlich aus, wie die meiner Eltern, denn ihre Farbigkeit, ihr Pomp, ihre Übertreibung, das machte sie indonesischer. Die Anbiederung, das Schwärmerische für die westliche Lebensart, führte zu einem Zerrbild, zu einer Karikatur, in der sich meine Kindheit spiegelte. Das Empfangszimmer in J. Mellus Haus war weniger prunkvoll, im Stil aber gleich. Heute kann ich das gelassener sehen. Die Familie Mellu gehört, wie die chinesischen Händler und Gastronomen, sichtbar zu den wohlhabenden Einwohnern. Er ist ein Zuwanderer aus Rote, durch Initiative und Weitblick zu Wohlstand gekommen. Kein Atoin Meto, eine Beobachtung, die ich immer wieder mache, und die mich überzeugt, dass die Einheimischen keine Händler und Geschäftsleute sind. Die Regeln des Kapitalismus entsprechen nicht ihrer Moral und auch nicht ihrem Interesse. In den ländlichen Gebieten mussten sie schon immer ohne Bargeld auskommen. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Jetzt sitzt Mellu mir gegenüber auf dem Sofa, vorgebeugt. Während Marcelina Sae` höflich schweigt, hält er mir mit leuchtenden Augen einen Vortrag über die Weberei Amanubans, die doch eigentlich Frauensache ist.
Ein Beamter der Provinzregierung, wo ich meine Anwesenheit in Amanuban melden muss, hat den Kontakt zur Kerajinan Mellu vermittelt. Es ist üblich, sagt er, ausländischen Wissenschaftlern gewähren wir jede Unterstützung. Was er nicht sagt, es ebenfalls üblich, sie zu kontrollieren, sie an der langen Leine zu führen. Ich bekomme zum ersten Mal den Eindruck, dass ich nach Informationen suche, die im indonesischen Amanuban nicht gerne mit Fremden geteilt werden, besonders, wenn sie die heidnische Vergangenheit betreffen. Aber nach dieser bin ich auf der Suche. Später mache ich noch eine ganz andere Erfahrung: die heidnische Vergangenheit teilt man besonders nicht mit Fremden, die man als Repräsentanten der Regierung betrachtet. Viel zu schnell geriet man in den Verdacht, Animist zu sein, der gelbe Stern in Amanuban, besonders gern von den beiden christlichen Kirchen verliehen. Doch es gibt Ausnahmen. Ich mache die Leine los, und verärgere die offiziellen Stellen, die mir das nicht verziehen haben. Später kaufe ich ein Motorrad und suche meine eigenen Wege in Amanuban, die Voraussetzung, authentische Kontakte zu knüpfen. In den ersten Monaten spiele ich weiter meine Rolle als Greenshorn, zum Vergnügen meiner Gesprächspartner. Wir haben viel gelacht in diesen Wochen, denn Peinlichkeiten gab es genug. Aber ich habe in dieser Zeit das gute Benehmen gelernt, die soziale Etikette, die Bedeutung und den Konsum von Betel, die Beachtung der Grenzen der Geschlechterrollen und ganz besonders das respektvolle Verhalten den Senioren gegenüber, den Vätern, den Amaf, von Haushalt und Klan. Doch bis dahin vergingen Wochen, und in dieser irritierenden Atmosphäre im Wohnzimmer in Niki Niki wusste ich gar nichts. Meine Kenntnisse über die Bedeutung der textilen Motivik der Atoin Meto waren damals lückenhaft; gelehrte Spekulationen und Rätselraten, mehr nicht. Jemandem mit profundem indigenen Wissen über die Ikonographie der Tracht bin ich nicht begegnet. Doch von der Kerajian Mellu bis zu dieser Einsicht legte ich einen langen, frustrierenden Weg zurück.

Jeremia Mellus Gruppengespräch verläuft unspektakulär, kommt über Halbwissen, Anekdoten und einige allgemeine, kulturelle Informationen nicht hinaus. Stundenlang debattieren wir über teilweise unwichtige Details, ein unsystematischer Vortrag, der sich ständig verzettelt. Meine Fragen werden beharrlich überhört, vage beantwortet oder mit Vermutungen abgespeist. Von Beginn an ist es entschieden, welche Informationen ich brauche und welche nicht. Ich fühle mich wie ein Bauer in einem unübersichtlichen Schachspiel, der beliebig auf dem Brett verschoben wird. Nur geschlagen werden darf er nicht. Die Gesprächsatmosphäre ist höflich, freundlich und respektvoll. Ich werde gelobt, man schmeichelt mir, füttert geschickt mein Ego; nur, alles fühlt sich irgendwie falsch an. Meine Versuche, den einen oder anderen der Teilnehmer in ein Einzelgespräch zu verstricken, boykottierten Mellu und Boimau geschickt. Die Weberin und der Transvestit, interessante Persönlichkeiten, aufgrund ihrer Weiblichkeit kompetente Fachkräfte, schweigen unter der autoritären Last ihres ehemaligen Bürgermeisters und eines Repräsentanten der indonesischen Regierung. Sie fühlen sich unwohl. Ich kann ihre Nervosität spüren. Sie wären am liebsten Anderswo. Fragen über Technologie und Ergologie der Weberei sind kein Problem. Darin kennt Mellu sich als Unternehmer aus. Mit den Namen der Motive, der erste Versuch, etwas über ihre Bedeutung zu erfahren, ist das etwas völlig anderes. Plötzlich tragen sie nicht mehr die Namen, die ich bereits aus der Literatur kenne, die Konzepte, die ich mit ihnen verbinde, kennt niemand.
Auf meine Einwände herrscht betretendes Schweigen, manchmal lösen sie Diskussionen in Uab Meto aus, das ich noch nicht verstehe. Motivnamen, die zuerst als unbekannt und ungebräuchlich abgewiesen werden, kennt man plötzlich doch, bezeichnet sie aber als heidnisch und nicht mehr gebräuchlich. Gibt ihnen andere Namen. Früher hat es diesen Glauben gegeben, aber jetzt sind wir schon lange Christen, heßt es unisono. Mellu und Boimau dominieren mein Gruppeninterview. Beide haben ein starkes Interesse zu kontrollieren, welche Informationen ich bekomme. Sie beanspruchen ein Informationsmonopol, das sie mir gegenüber eiskalt ausüben. Abwechselnd antworten sie vage und unbestimmt auf alle Fragen zur Webtechnik, Musterung und Tracht.
Atoin Meto sind höfliche Menschen, bei denen gegenseitiger Respekt einen hohen Wert darstellt. Und sie sind hierarchiebewusst, reden nicht in Anwesenheit von sozial Höhergestellten, geben nur Auskunft, wenn sie direkt angesprochen werden. Immer wieder fallen sie ins Uab Meto. Ich vermute, meine Gesprächspartner, die Indonesisch alle gut beherrschen, sprechen sich ab, legen untereinander den Konsens fest. Jedes Mal erledigt Mellu die Übersetzung. Ich beginne mich zu langweilen, dann zu ärgern. Sie verstehen nicht, was ich will, oder tun nur so. Sie fürchten die Öffentlichkeit des Gesprächsrahmens, die Diskriminierung als Ungläubige, als Gestrige. Ihr Ruf und ihre soziale Mobilität hängen vom richtigen Glauben ab. In Indonesien herrscht Religionsfreiheit, das garantieren die fünf Werte der Panca Sila. Trotzdem: Religion muss Keagamaan, monotheistisch, sein. Ethnische Religiosität, kepercayaan, ist in Indonesien gebannt, lediglich als exotische Unterhaltung für Touristen geduldet und profitabel gefördert, marktwirtschaftlich ausbeutbare Folklore.

In der Manufaktur Mellu bekomme ich den Eindruck, dass es hinsichtlich der Ikonographie der Tracht zwei unterschiedliche Lesarten gibt, zwei verschiedene Versionen: die offizielle Version der staatlichen Institutionen und der Kirche, die Angst vor den überlieferten kulturellen Überzeugungen haben, und eine volkstümliche Version, die in einem kulturellen Untergrund existiert. Aus Angst vor den Inhalten werden Decknamen verwendet, die überlieferten Formen werden deskriptiv nach ihrer Gestalt benannt.
Marcelina Sae` versteht meine Absicht. Immer wieder versucht sie den Redeschwall von Jeremia Mellu zu durchbrechen, steuert interessante Details bei, scheitert aber an der Dominanz der Männer. Otniel Be'es schafft es sogar, das Gespräch lächelnd und schweigend zu überstehen. J. Mellu beansprucht alle Redeanteile für sich allein; nur ich darf ihm Fragen stellen, um seine Rede anzufachen. Ich muss nur an diese Begegnung im Hause Mellu denken, gleich sehe ich alles wieder vor mir, die eigenartig aufgesetzte, schrille Atmosphäre, die respektvoll distanzierte Vorsicht, mir gegenüber, und die Mühe, die Mellu und Boimau damit hatten, mich auf Distanz zu halten, während die beiden Experten sich vor Peinlichkeit innerlich wanden, sich aber nicht trauten, etwas einzuwenden.

Im Hause Mellu ereilt mich das Schicksal, das dem westlichen Wissenschaftler in Amanuban vorbehalten ist: Ich werde mit kulturellen Versatzstücken oder Kuriositäten abgespeist. Man weicht meinem Wissensdurst aus, den man nicht versteht, frage ich doch nach oft Selbstverständlichkeiten. Erst viele Monate und Gespräche später, gelingt es mir, aus dem Gemenge, das mir Mellu und Boimau präsentierten, die Perlen zu isolieren. Die Motive der Ikonographie, behauptete Boimau damals, gingen aus den klanspezifischen Malak hervor, den Brand- und Eigentumszeichen an Vieh und fruchtragenden Bäumen. Spaltete sich eine soziale Gruppe von ihrem Klan ab, und wanderte weiter nach Westen, auf der Suche nach freiem Land, variierte sie das ursprüngliche Malak seiner Herkunftsgruppe. Um Muster zu entwickeln, so Boimau, nahmen die Frauen früher das lanzettförmige Blatt des Hau Nikis, einer Baumart der Trockensavanne, und falteten es auf eine bestimmte Weise. Dann bissen sie solange kräftig in das gefaltete Blatt, bis es einen Saft absonderte, der in braunen Linien eines der charakteristischen Hakenmotive auf dem grünen Untergrund hinterließ. Die jungen Weberinnen lernten mit diesem Verfahren die Entwicklung ihrer textilen Motive. Die Herkunft der textilen Motive als eine Art Origami. Eine gewagte These, ein Mythenrest möglicherweise. Das interessante an Boimaus Behauptung ist die Bestätigung, dass der Klan als soziale Gruppe über ein Motivrepertoire verfügte, aus dem allmählich eine schwer systematisierbare Vielfalt von Motiven entstand, die die rezente territoriale und soziale Differenzierung der Tracht bis ins Unendliche zersplittert hat.
Boimau legte auch großen Wert darauf, die unterschiedlichen Verzierungstechniken Futus, Lotis und Buna` nicht zu vermischen. In Amanuban ist Ikat die älteste und ursprüngliche Technik. Kettentechnik und broschierte Mustereinträge sind spätere Innovationen aus Molo und Miomafo. In Amanuban waren die dominierenden Farben einst schwarz, das tiefe Blau des Indigo, und weiß, die Farbe der Baumwolle. Molo-Miomafo, das Reich des Sonba'i, erkannte man an weiß und rot gemusterter Kleidung. Die Verzierungstechniken und Motive, um die es mir geht, waren bis zur indonesischen Unabhängigkeit exklusiver Besitz des Adels. Die Bevölkerung der abhängigen Bauern, so erzählt man sich in Amanuban, trugen ungemusterte, schwarz-weiß gestreifte Kleidung; die Frau einen knöchellangen Tais, den pan-indonesischen Sarong, der Mann einen Mau, das auf den Hüften getragene, wadenlange Umschlagtuch. Allerdings verstrickten sich meine Fragen nach eindeutigen Regeln des Rechts auf bestimmte Farben und Verzierungstechniken in Widersprüchen.

Die Stoffe, die die Kerajian Mellu herstellt, sind weit über Niki Niki hinaus bekannt. Die Produktionsstätte: ein düsterer Raum, die Wände grob verputzt und ohne Dekor. Tageslicht fällt nur durch die beiden Fenster der Längsmauer und der schmalen Tür. Die Frauen arbeiten im Akkord, und stellen mehrere, gleichgemusterte Gewebe gleichzeitig her. Sie arbeiten schnell und präzise, gehen routiniert vor, plaudern nebenbei mit mir oder miteinander. Sie müssen sich nicht sehr konzentrieren, ihre Arbeit hat etwas Automatisches, jeder Griff sitzt. Doch mein Interesse an ihrer Arbeit irritiert sie. Ich komme ihnen viel zu nahe, bewege mich ungeniert in ihrer Sphäre, die in Amanuban mehr als die unmittelbaren Körpergrenze umfasst. Der Raum, der jemanden umgibt, gehört zum Körper, kann mitunter sehr intim sein, eine Aura, die zur Person gehört. Sich in ihm zu bewegen, oder ihn zu durchqueren, erfordert die Erlaubnis des Eigentümers. Außerdem gehört es sich nicht, dass Männer sich mit der Weberei beschäftigten. Früher war das ein Tabu. Ich höre, wie sie hinter meinem Rücken raunen. Sie machen die eine oder andere anzügliche Bemerkung, die sich auf Sexuelles bezieht. Ich verstehe nicht, was sie sagen, aber ich erkenne die Gesten. Sie lachen viel, oft schamvoll hinter vorgehaltener Hand, treiben ihre Scherze mit mir, aber geben bereitwillig und ausführlich Auskunft über ihre Arbeit. Technologisches. Über die Muster, die sie so geschickt im Gewebe realisieren, wissen sie nicht mehr als dürre, die Gestalt beschreibenden Namen.
Die Weberinnen sitzen unter den Fenstern auf Lontarmatten auf dem Boden an ihren Gurtwebgeräten, den Warenbaum um die Hüften gebunden. Die Spannung der Kette regulieren ihre an der Wand abgestützten Füße. Kein Atelier, eher ein Stall, der Boden festgetretene Erde. In dieser Umgebung werden Gewebe in Serie zum Verkauf hergestellt. Im Vergleich zu der häuslichen Produktion in den Haushalten der Dörfer, wie ich sie bei Agus Mutter gesehen habe, Massenware.
Doch die Frauen sind von unserem Besuch und unserem Interesse an der Arbeit begeistert, die ihre alltägliche Monotonie unterbricht. Alles was ich brauche ist vorhanden: die Weberinnen, die Geräte mit Ikatgeweben in verschiedenen Phasen der Produktion sowie die Motive, denen ich hinterherjage. Alle wissen etwas, und eine übertrumpft die andere mit ihrem Eifer. Nachmittags habe ich viele Seiten in meinem Notizbuch gefüllt: Motivnamen, vermutete Bedeutungen, Regeln für das Arrangement des Musters in der Kette. Ich bin satt und zufrieden. Es gibt Übereinstimmungen, es gibt Widersprüche und Ungereimtheiten oder blanken Unsinn. Aber ich habe eine erste umfangreiche Liste technischer und ikonografischer Termini der Gewebe der Atoin Meto. Der Beginn einer Nomenklatur. Und eine Übersicht über die Naturfarben und deren Gewinnung. Eine reichere Ernte als im elegant eingerichteten Wohnzimmer von Jeremia Mellu.

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