Ich kam nach Amanuban, um die Bedeutung der Ikonographie der Tracht der Atoin Meto zu verstehen. Es muss Ende der 1970er Jahre gewesen sein, ich befand mich mitten in meinem Studium der Völkerkunde an der Albertus-Magnus-Universität zu Köln. Waldemar Stöhr war damals Kurator am Rautenstrauch-Joest-Museum und mit Ostindonesien befasst. Von ihm stammt die spannende Studie über die altindonesischen Kulturen, die mich beeindruckt und beeinflusst hat. Und auch die Ausstellung über diese Kulturen war sein Werk, ganz oben, fast verstaubt, unter dem Dach des Museums untergebracht. Ich war damals noch naiv und unerfahren, glaubte, ein Studium der Völkerkunde habe mit Abenteuern in fremden Ländern zu tun, dachte wahrscheinlich an Reisende, Forscher und Entdecker, an eine Mischung aus 1001 und eine Nacht, an Fenimore Cooper, F. Gerstecker oder Karl May in Personalunion. Das war am Anfang dieser Disziplin nicht viel gewesen, in 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ende des 20. Jahrhunderts hatten die dürren Fakten über die Inspiration gesiegt. Das Fiktive, Imaginäre, Visionäre und Mysteriöse, da weder wirtschaftlich noch politisch verwertbar, führte in der Ethnologie nur noch ein Schattendasein. Lediglich seinen Unterhaltungswert leugnete man nicht.
Ich
war damals auf der Flucht vor der Sozialarbeit in einem Jugendzentrum, selbst
noch viel zu jung, für diese Herausforderung. Was es wirklich bedeutet,
Ethnologe zu sein, fernab jeder Idealisierung, begriff ich erst viel später. Der
Numerus Clausus für das Fach Völkerkunde betrug zu dieser Zeit 1.9 und lag
jenseits meiner Möglichkeiten. Also begann ich mein Studium am Fachbereich Ur-
und Frühgeschichte. Als eine der ersten Besonderheiten lernte ich von Gerhard
Bosinski, dass es keine Vorgeschichte gibt, und Geschichte nichts mit Schrift
und schriftlicher Überlieferung zu tun hat. Eine wichtige Überzeugung, ein Pfeiler meiner späteren
Beschäftigung mit den mündlichen Dichtungen ostindonesischer Kulturen. Nach
bestandener Zwischenprüfung wechselte ich stolz zu den Völkerkundlern, tauschte
Geologie gegen Malaiologie, und hatte alles zusammen, was Jahre später nach
Amanuban führte. Den Atoin Meto, die in Waldemar Stöhrs Präsentation noch die
Atoni aus Westtimor waren, begegnete ich erstmals auf den historischen Fotos in seiner Ausstellung. Sehr fremd, sehr archaisch, wirkten die Menschen auf diesen Fotos auf mich.
Männer mit Haarknoten unter einem Lopo, ich sehe das Bild noch heute vor mir.
Als
Gisela Völker und Karin van Welck 1984 die große Ausstellung Indonesische Textilen im Museum kuratierten, war ich zur Stelle. Anschließend gingen mir
die eigenartigen Rauten, die die Aroin Meto in ihren Geweben realisierten, in
Holz und Bambus ritzen und auf ihre Haut tätowierten, nicht mehr aus dem Sinn. Und auch eine Bemerkung im
Museumskatalog nicht: Es scheint jedoch,
dass die Ornamentik der Textilien sich in erster Linie nach der territorialen
und politischen Einheit richtete, und Rangunterschiede eher an einer reicheren
und sorgfältigeren Musterung, als an spezifischen Ornamenten erkennbar waren.
Ein niederländischer Kolonialbeamter, H.G. Schulte Nordholt, der viele
Dienstjahre in Insana, Nordzentraltimor, verbrachte, machte diese Beobachtung
bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, publizierte sie
aber erst 1971, nach seiner Rückkehr nach Europa. Seitdem nichts Wesentliches mehr.
Als ich 1988 meine Magisterschrift über die Textilien
der Atoin Meto vorlegte, lag über Timor ein Schweigen, wie seit der vorkolonialen
Epoche nicht mehr. In den 1980 Jahren hatte ich alle Informationen über die
Kultur der Atoin Meto zusammengetragen, die ich in westeuropäischen
Bibliotheken und Museen finden konnte. Schulte Nordholts Randbemerkung über die
Bedeutung der Muster auf der Tracht der Atoin Meto setzte den Endpunkt. Die rätselhafte,
beinahe mysteriöse Stille danach reizte meine Fantasie und provozierte meinen
Wissensdurst. Meine Neugier war nicht nur aufgescheucht, sie war aufgeweckt. Ich
spürte die Verlockung wie ein süßes Kribbeln unter meiner Haut.
Die Herstellung von Textilien
ist in Amanuban den Frauen vorbehalten. Die Entwicklung von gewebten Motiven
stellte einst ein bevorzugtes Prestigesystem dar, parallel zur Kopfjagd der Männer. Einst fand die Weberei dort statt, wo
der Mann den Status eines Gastes hatte; im Inneren der Wohnung, im Atrium, der
weiblichen Sphäre von Geburt, Lagerung der Ernte und Tod. In der Gebärmutter
Amanubans, wie Mesakh Banamtuan das bienenförmige Rundhaus nennt, das Ume kbubu, die Wohnung der Familie.
Diese Vorschrift kommt dem modernen Atoin Meto zwar kurios vor, vergessen hat
er sie noch nicht.
Mit Ausnahme weniger homophiler Weber, ist das Weben in Amanuban noch
immer Frauensache. Die Frauen in den Dörfern weben eine leuchtende,
farbenprächtige Kleidung, deren ausdrucksvolle Ikonographie einen
bemerkenswerten Reiz auf das eher an Grautöne gewöhnte Auge des westlichen
Betrachters ausübt. Die Attraktivität dieser Kleidung kommt in den Monaten der
Trockenzeit am besten zur Geltung, wenn das wellige Hügelland mit seinen schroffen
Felsauswüchsen von der gleißenden Sonne zu einer rotbraunen Kruste gebrannt
wird.
Farbige,
von roten Streifen dominierte Gewebe sind mit indigo-weiß gemusterten
Ikatpartien kombiniert, deren visuelle Eindringlichkeit einen geradezu schrillen
Kontrast zur scheinbar endlosen Eintönigkeit der Landschaft bildet. Schon aus
weiter Ferne ist der Signalcharakter der farbigen Motive zu erkennen,
woher jemand kommt und welcher sozialen Gruppe er angehört. Mit diesen
Vorstellungen traf ich Anfang 1990 in Westtimor ein, und musste bald
feststellen, dass die Literatur mehr wusste, als die modernen Produzenten und Konsumenten
dieser Textilien. Zwar war es jedem Atoin Meto, den ich fragte, bewusst, dass es sich bei der Musterung ihrer Tracht um ein
charakteristisches Kulturmerkmal handelt. Was sie bedeutet, und welche Rolle
sie bei der Sicherung ihrer ethnischen Identität spielt, verstanden die
wenigsten. Explizites Wissen gab es kaum, latentes Wissen war, wenn vorhanden,
nicht greifbar. Was den Atoin Meto mit seinen Textilien und deren Ikonographie
verband, lässt sich noch am ehesten mit dem numinos ehrfürchtigen Gefühl
vergleichen, dass mich beim Anblick der in Stein gemeißelten christlichen
Symbolik einer gotischen Kathedrale ergreift. Ich spüre, dass sie etwas mit mir
zu tun hat, ein vertrautes Gefühl, aber erklären kann ich, wenn überhaupt, nur
ein paar Fragmente.
Vor
einer Woche lernte ich Jeremia Mellu kennen. Er war mein Ausgangspunkt, mein erster,
noch enthusiastischer Schritt auf meinen Forschungsgegenstand zu. Vor zwei
Jahren hat J. Mellu eine Kelompok
Kerajinan in Niki Niki gegründet, eine Textilkooperative, die aus 212
Mitgliedern besteht. Bis zu zehn Frauen bilden eine regionale Arbeitsgruppe in mehreren
Dörfern in Südzentraltimor. Sie produzieren in Heimarbeit tradionell gefertigte, gemusterte Gewebe für den
Verkauf auf lokalen Märkten. Ein Teil ihrer Stoffe wird zu Hemden und Jacken in
westlichem Schnitt verarbeitet. Nach dem Vorbild der javanischen Batikkleidung,
als guter Anzug, bei Bürokraten und Politikern der indonesischen
Administration äußerst beliebt. Was dem Javaner seine Batik, ist dem Atoin Meto
sein Ikat. In der Kelompok Kerajinan
Mellu in Niki Niki arbeiten fünf Frauen täglich von 8 - 13.00 Uhr. Die Frauen in den Dörfern,
die auf verschiedene Webtechniken spezialisiert sind, erhalten unregelmäßig
Aufträge, entsprechend der Nachfrage nach diesen Stoffen. J. Mellu sagt mir
sofort Unterstützung zu, als sei das überhaupt keine Frage. Er redet in einem
fort und verspricht alles, ohne auch nur einen Moment nachzudenken, um zu
verstehen, worum es mir geht.
Ein
paar Tage später sitzen wir um seinen Wohnzimmertisch versammelt. Jeremia Mellu
bestand auf einem
Gruppengespräch. Er hat meine Gesprächspartner sorgfältig ausgewählt. Nach
ihren Kenntnissen und Erfahrungen, und nach ihrer unterschiedlichen sozialen
Schicht, hat er sie eingeladen: eine Frau und einen Mann, beide ältere Atoin Meto, in traditionelle Tracht
gekleidet. Und den Kepala DEPDIKUD der Provinzregierung von Soë, Jusuf Boimau,
ein Militär Mitte Fünfzig, in Uniform, der politische Macht und informellen
Einfluss in einer Person verbindet. Jusuf Boimau gehört zu einer der
einflussreichen alten Namengruppen in Südzentraltimor. Er ist indonesischer
Offizier und Verwaltungsanstellter in führender Position und Atoin Meto. In der
indonesischen Admistration ist es unüblich, die Mitarbeiter der Bürokratie in
ihrer Herkunftsregion einzusetzen. So entsteht eine ethnische Grenze zwischen
dem Personal der politischen Institutionen und der indigenen Bevölkerung, die
deren soziale und politische Organisationen von der politischen Herrschaft
ausschließt. Den Atoin Meto von Amanuban steht eine fremdethische politische
Elite kontrollierend und organisierend gegenüber. Der intellektuellen Elite der
Atoin Meto bleibt nichts anderes übrig, als in den kulturellen Untergrund zu
gehen, um ihre eigenen politischen Strukturen zu bewahren, und um ihre Überlieferungen
zu pflegen und zu inszenieren. Jusuf Boimau bildet eine der Ausnahmen von
dieser Praxis.
Als
ausgewiesene Experten und Praktiker der Atoin-Meto-Weberei stellt J. Mellu seine
beiden anderen Gäste vor: Otniel Be`es, einen homophilen Weber aus Niki Niki,
und Marcelina Sae`, Hofweberin und Bedienstete in Nesi Nopes Palast in Niki
Niki. Mein Gastgeber hört sich gerne reden, und ich kann meine Fragen kaum
stellen. Auch die beiden Experten bekommen nur dann Gelegenheit sich zu äußern,
wenn J. Mellu um Bestätigung heischend zu ihnen blickt. Sie sitzen still und
bescheiden in die Kissen der Coach gelehnt, nippten hin und wieder an ihrem
Tee und lauschen J. Mellu, der mit ausholenden Gebärden referiert. Immer dann, wenn
er einen neuen Gedanken fasst, führt er seinen rechten Zeigefinger mit nach
oben geöffneter Handfläche in kreisender Bewegung an die Stirn. Sein
Vortragsstil hat mich so beeindruckt, dass ich ihn noch immer lebhaft vor mir
sehe. Was er über die Weberei in Amanuban wusste, dagegen nicht. Jerimia Mellu
ist ein einflussreicher Mann, inzwischen Mitte Fünfzig. Vor Nesi Nope war er der
Bürgermeister von Niki Niki. Seine Haare sind schütterer geworden, auf dem
Vorderhaupt hat er sie schon ganz verloren. Ein gelbes Hemd unter einer blauen Windjacke,
lange braune Hose und schwarze, frisch geputzte Halbschuhe; keine Strümpfe. Kein Kleidungsstück weist ihn als Atoin Meto aus. Er ist auch keiner, denn er istin Rote geboren. Ein modernern, nationalbewusster Indonesier.
Wir sitzen in einem hellen Raum, der mich an die deutschen Wohnzimmer in den
1950e Jahren erinnert. An die Wohnung meiner Eltern, die Möblierung, die Atmosphäre
alles das, was für mich lange Zeit Inbegriff deutschen Kleinbürgertum war: Couchtisch,
Sessel, ein Sofa und der mehrtürige Wohnzimmerschrank, aus Eiche musste er
sein, in dem das Gute aufbewahrt wurde, das nur bei Besuch herausgeholt wurde.
Über dem Sofa die Reproduktion eines Gemäldes eines berühmten Malers oder eines
einheimischen Landschaftsmalers. Wenn es ganz schlimm kam, die rassige Zigeunerin mit üppig ausgestelltem Busen, der uns Heranwachsende das Herz höher schlagen ließ, oder ein röhrender Hirsch vor bewaldeter Bergkulisse. Über dem Tisch ein Kronleuchter, darunter der reich gemusterte Teppich mit dickem Flor. Nippes besetzte jede freie Stelle.
Ich
kann mich nicht mehr genau erinnern, ich war gerade erst in Soë eingetroffen. Hendrik
Billik, mein Nachbar und Bruder meines Vermieters, begleitete mich zu einem
offiziellen Besuch, vielleicht zum Rukun Wilayah von Oebesa. Ich erinnere
mich noch gut daran, wie mein Bild von Westtimor zusammenbrach. Mikhaels Wohnungseinrichtung
war modern, mit westlichen Elementen, aber immer noch indonesisch. Jetzt saß auf einem
großen grünen Plüschsofa ein älteres Ehepaar, westlich gekleidet, beide
übergewichtig. Mein erster Besuch bei Soës Oberschicht zerstörte meinen letzten
Rest romantischer Verklärung. Als ich meinen Schock und meine Enttäuschung
überwunden hatte, fand ich mich in der Wirklichkeit wieder. Die Wohnung in
Oebesa sah nur oberflächlich aus, wie die meiner Eltern, denn ihre Farbigkeit,
ihr Pomp, ihre Übertreibung, das machte sie indonesischer. Die Anbiederung, das
Schwärmerische für die westliche Lebensart, führte zu einem Zerrbild, zu einer Karikatur,
in der sich meine Kindheit spiegelte. Das Empfangszimmer in J. Mellus
Haus war weniger prunkvoll, im Stil aber gleich. Heute kann ich das gelassener
sehen. Die Familie Mellu gehört, wie die chinesischen Händler und Gastronomen,
sichtbar zu den wohlhabenden Einwohnern. Er ist ein Zuwanderer aus Rote, durch
Initiative und Weitblick zu Wohlstand gekommen. Kein Atoin Meto, eine
Beobachtung, die ich immer wieder mache, und die mich überzeugt, dass die
Einheimischen keine Händler und Geschäftsleute sind. Die Regeln des
Kapitalismus entsprechen nicht ihrer Moral und auch nicht ihrem Interesse. In
den ländlichen Gebieten mussten sie schon immer ohne Bargeld auskommen. Daran
hat sich bis heute nicht viel geändert. Jetzt sitzt Mellu mir gegenüber auf dem
Sofa, vorgebeugt. Während Marcelina Sae` höflich schweigt, hält er mir mit leuchtenden Augen einen Vortrag über die Weberei
Amanubans, die doch eigentlich Frauensache ist.
Ein Beamter
der Provinzregierung, wo ich meine Anwesenheit in Amanuban melden muss, hat den
Kontakt zur Kerajinan Mellu
vermittelt. Es ist üblich, sagt er, ausländischen Wissenschaftlern gewähren wir
jede Unterstützung. Was er nicht sagt, es ebenfalls üblich, sie zu
kontrollieren, sie an der langen Leine zu führen. Ich bekomme zum ersten Mal
den Eindruck, dass ich nach Informationen suche, die im indonesischen Amanuban nicht gerne mit Fremden geteilt werden,
besonders, wenn sie die heidnische Vergangenheit betreffen. Aber nach dieser
bin ich auf der Suche. Später mache ich noch eine ganz andere Erfahrung: die
heidnische Vergangenheit teilt man besonders nicht mit Fremden, die man als
Repräsentanten der Regierung betrachtet. Viel zu schnell geriet man in den
Verdacht, Animist zu sein, der gelbe Stern in Amanuban, besonders gern von den
beiden christlichen Kirchen verliehen. Doch es gibt Ausnahmen. Ich mache die
Leine los, und verärgere die offiziellen Stellen, die mir das nicht verziehen
haben. Später kaufe ich ein Motorrad und suche meine eigenen Wege in Amanuban, die
Voraussetzung, authentische Kontakte zu knüpfen. In den ersten Monaten spiele
ich weiter meine Rolle als Greenshorn, zum Vergnügen meiner Gesprächspartner.
Wir haben viel gelacht in diesen Wochen, denn Peinlichkeiten gab es genug.
Aber ich habe in dieser Zeit das gute Benehmen gelernt, die soziale Etikette, die
Bedeutung und den Konsum von Betel, die Beachtung der Grenzen der Geschlechterrollen und ganz besonders das
respektvolle Verhalten den Senioren gegenüber, den Vätern, den Amaf, von Haushalt und Klan. Doch bis
dahin vergingen Wochen, und in dieser irritierenden Atmosphäre im Wohnzimmer in
Niki Niki wusste ich gar nichts. Meine Kenntnisse über die Bedeutung der
textilen Motivik der Atoin Meto waren damals lückenhaft; gelehrte Spekulationen
und Rätselraten, mehr nicht. Jemandem mit profundem indigenen Wissen über die Ikonographie der Tracht bin ich nicht begegnet. Doch von der Kerajian Mellu bis zu dieser Einsicht
legte ich einen langen, frustrierenden Weg zurück.
Jeremia Mellus Gruppengespräch
verläuft unspektakulär, kommt über Halbwissen, Anekdoten und einige allgemeine,
kulturelle Informationen nicht hinaus. Stundenlang debattieren wir über teilweise
unwichtige Details, ein unsystematischer Vortrag, der sich ständig verzettelt.
Meine Fragen werden beharrlich überhört, vage beantwortet oder mit Vermutungen abgespeist.
Von Beginn an ist es entschieden, welche Informationen ich brauche und welche
nicht. Ich fühle mich wie ein Bauer in einem unübersichtlichen Schachspiel, der
beliebig auf dem Brett verschoben wird. Nur geschlagen werden darf er nicht. Die
Gesprächsatmosphäre ist höflich, freundlich und respektvoll. Ich werde gelobt, man
schmeichelt mir, füttert geschickt mein Ego; nur, alles fühlt sich irgendwie falsch
an. Meine Versuche, den einen oder anderen der Teilnehmer in ein Einzelgespräch
zu verstricken, boykottierten Mellu und Boimau geschickt. Die Weberin und der
Transvestit, interessante Persönlichkeiten, aufgrund ihrer Weiblichkeit
kompetente Fachkräfte, schweigen unter der autoritären Last ihres ehemaligen
Bürgermeisters und eines Repräsentanten der indonesischen Regierung. Sie fühlen
sich unwohl. Ich kann ihre Nervosität spüren. Sie wären am liebsten Anderswo.
Fragen über Technologie und Ergologie der Weberei sind kein Problem. Darin
kennt Mellu sich als Unternehmer aus. Mit den Namen der Motive, der erste
Versuch, etwas über ihre Bedeutung zu erfahren, ist das etwas völlig anderes.
Plötzlich tragen sie nicht mehr die Namen, die ich bereits aus der Literatur
kenne, die Konzepte, die ich mit ihnen verbinde, kennt niemand.
Auf
meine Einwände herrscht betretendes Schweigen, manchmal lösen sie Diskussionen
in Uab Meto aus, das ich noch nicht verstehe. Motivnamen, die zuerst als unbekannt und ungebräuchlich
abgewiesen werden, kennt man plötzlich doch, bezeichnet sie aber als heidnisch und
nicht mehr gebräuchlich. Gibt ihnen andere Namen. Früher hat es diesen Glauben
gegeben, aber jetzt sind wir schon lange Christen, heßt es unisono. Mellu und Boimau dominieren
mein Gruppeninterview. Beide haben ein starkes Interesse zu kontrollieren,
welche Informationen ich bekomme. Sie beanspruchen ein Informationsmonopol, das
sie mir gegenüber eiskalt ausüben. Abwechselnd antworten sie vage und
unbestimmt auf alle Fragen zur Webtechnik, Musterung und Tracht.
Atoin
Meto sind höfliche Menschen, bei denen gegenseitiger Respekt einen hohen Wert
darstellt. Und sie sind hierarchiebewusst, reden nicht in Anwesenheit von
sozial Höhergestellten, geben nur Auskunft, wenn sie direkt angesprochen
werden. Immer wieder fallen sie ins Uab Meto. Ich vermute, meine Gesprächspartner, die Indonesisch alle gut beherrschen,
sprechen sich ab, legen untereinander den
Konsens fest. Jedes Mal erledigt Mellu die Übersetzung. Ich beginne mich zu
langweilen, dann zu ärgern. Sie verstehen nicht, was ich will, oder tun nur so. Sie
fürchten die Öffentlichkeit des Gesprächsrahmens, die Diskriminierung als
Ungläubige, als Gestrige. Ihr Ruf und ihre soziale Mobilität hängen vom
richtigen Glauben ab. In Indonesien herrscht Religionsfreiheit, das garantieren die fünf Werte der Panca Sila. Trotzdem: Religion muss Keagamaan,
monotheistisch, sein. Ethnische Religiosität, kepercayaan, ist in Indonesien gebannt, lediglich
als exotische Unterhaltung für Touristen geduldet und profitabel gefördert,
marktwirtschaftlich ausbeutbare Folklore.
In der Manufaktur Mellu bekomme ich den Eindruck, dass es hinsichtlich der Ikonographie der Tracht zwei
unterschiedliche Lesarten gibt, zwei verschiedene Versionen: die offizielle
Version der staatlichen Institutionen und der Kirche, die Angst vor den
überlieferten kulturellen Überzeugungen haben, und eine volkstümliche Version,
die in einem kulturellen Untergrund existiert. Aus Angst vor den Inhalten
werden Decknamen verwendet, die überlieferten Formen werden deskriptiv nach
ihrer Gestalt benannt.
Marcelina
Sae` versteht meine Absicht. Immer wieder versucht sie den Redeschwall von
Jeremia Mellu zu durchbrechen, steuert interessante Details bei, scheitert aber
an der Dominanz der Männer. Otniel Be'es schafft es sogar, das Gespräch lächelnd und
schweigend zu überstehen. J. Mellu beansprucht alle Redeanteile für sich
allein; nur ich darf ihm Fragen stellen, um seine Rede anzufachen. Ich muss nur
an diese Begegnung im Hause Mellu denken, gleich sehe ich alles wieder vor mir,
die eigenartig aufgesetzte, schrille Atmosphäre, die respektvoll distanzierte
Vorsicht, mir gegenüber, und die Mühe, die Mellu und Boimau damit hatten, mich
auf Distanz zu halten, während die beiden Experten sich vor Peinlichkeit
innerlich wanden,
sich aber nicht trauten, etwas einzuwenden.
Im Hause Mellu ereilt mich das
Schicksal, das dem westlichen Wissenschaftler in
Amanuban vorbehalten ist: Ich werde mit kulturellen Versatzstücken oder Kuriositäten abgespeist. Man weicht meinem
Wissensdurst aus, den man nicht versteht, frage ich doch nach oft
Selbstverständlichkeiten. Erst viele Monate und Gespräche später, gelingt es
mir, aus dem Gemenge, das mir Mellu und Boimau präsentierten, die Perlen zu
isolieren. Die Motive der Ikonographie, behauptete Boimau damals, gingen aus
den klanspezifischen Malak hervor, den
Brand- und Eigentumszeichen an Vieh und fruchtragenden Bäumen. Spaltete sich
eine soziale Gruppe von ihrem Klan ab, und wanderte weiter nach Westen, auf der
Suche nach freiem Land, variierte sie das ursprüngliche Malak seiner Herkunftsgruppe. Um Muster zu entwickeln, so Boimau, nahmen
die Frauen früher das lanzettförmige Blatt des Hau Nikis, einer Baumart der
Trockensavanne, und falteten es auf eine bestimmte Weise. Dann bissen sie
solange kräftig in das gefaltete Blatt, bis es einen Saft absonderte, der in
braunen Linien eines der charakteristischen Hakenmotive auf dem grünen
Untergrund hinterließ. Die jungen Weberinnen lernten mit diesem Verfahren die
Entwicklung ihrer textilen Motive. Die Herkunft der textilen Motive als eine
Art Origami. Eine gewagte These, ein Mythenrest möglicherweise. Das
interessante an Boimaus Behauptung ist die Bestätigung, dass der Klan als
soziale Gruppe über ein Motivrepertoire verfügte, aus dem allmählich eine
schwer systematisierbare Vielfalt von Motiven entstand, die die rezente
territoriale und soziale Differenzierung der Tracht bis ins Unendliche
zersplittert hat.
Boimau legte auch großen Wert darauf, die unterschiedlichen
Verzierungstechniken Futus, Lotis und Buna` nicht zu vermischen. In Amanuban ist Ikat die älteste und
ursprüngliche Technik. Kettentechnik und broschierte Mustereinträge sind
spätere Innovationen aus Molo und Miomafo. In Amanuban waren die dominierenden
Farben einst schwarz, das tiefe Blau des Indigo, und weiß, die Farbe der Baumwolle. Molo-Miomafo, das
Reich des Sonba'i, erkannte man an weiß und rot gemusterter Kleidung. Die Verzierungstechniken und
Motive, um die es mir geht, waren bis zur indonesischen Unabhängigkeit
exklusiver Besitz des Adels. Die Bevölkerung der abhängigen Bauern, so erzählt
man sich in Amanuban, trugen ungemusterte, schwarz-weiß gestreifte Kleidung;
die Frau einen knöchellangen Tais,
den pan-indonesischen Sarong, der Mann einen Mau, das auf den Hüften getragene,
wadenlange Umschlagtuch. Allerdings verstrickten sich meine Fragen nach
eindeutigen Regeln des Rechts auf bestimmte Farben und Verzierungstechniken in Widersprüchen.
Die
Stoffe, die die Kerajian Mellu
herstellt, sind weit über Niki Niki hinaus bekannt. Die Produktionsstätte: ein
düsterer Raum, die Wände grob verputzt und ohne Dekor. Tageslicht fällt nur
durch die beiden Fenster der Längsmauer und der schmalen Tür. Die Frauen
arbeiten im Akkord, und stellen mehrere, gleichgemusterte Gewebe gleichzeitig
her. Sie arbeiten schnell und präzise, gehen routiniert vor, plaudern nebenbei
mit mir oder miteinander. Sie müssen sich nicht sehr konzentrieren, ihre Arbeit
hat etwas Automatisches, jeder Griff sitzt. Doch mein Interesse an ihrer Arbeit
irritiert sie. Ich komme ihnen viel zu nahe, bewege mich ungeniert in ihrer
Sphäre, die in Amanuban mehr als die unmittelbaren Körpergrenze umfasst. Der
Raum, der jemanden umgibt, gehört zum Körper, kann mitunter sehr intim sein,
eine Aura, die zur Person gehört. Sich in ihm zu bewegen, oder ihn zu
durchqueren, erfordert die Erlaubnis des Eigentümers. Außerdem gehört es sich
nicht, dass Männer sich mit der Weberei beschäftigten. Früher war das ein Tabu.
Ich höre, wie sie hinter meinem Rücken raunen. Sie machen die eine oder andere anzügliche
Bemerkung, die sich auf Sexuelles bezieht. Ich verstehe nicht, was sie sagen,
aber ich erkenne die Gesten. Sie lachen viel, oft schamvoll hinter vorgehaltener Hand, treiben ihre Scherze mit mir, aber
geben bereitwillig und ausführlich Auskunft über ihre Arbeit. Technologisches.
Über die Muster, die sie so geschickt im Gewebe realisieren, wissen sie nicht
mehr als dürre, die Gestalt beschreibenden Namen.
Die
Weberinnen sitzen unter den Fenstern auf Lontarmatten auf dem Boden an ihren
Gurtwebgeräten, den Warenbaum um die Hüften gebunden. Die Spannung der Kette
regulieren ihre an der Wand abgestützten Füße. Kein Atelier, eher ein Stall,
der Boden festgetretene Erde. In dieser Umgebung werden Gewebe in Serie zum
Verkauf hergestellt. Im Vergleich zu der häuslichen Produktion in den
Haushalten der Dörfer, wie ich sie bei Agus Mutter gesehen habe, Massenware.
Doch die
Frauen sind von unserem Besuch und unserem Interesse an der Arbeit begeistert, die ihre alltägliche
Monotonie unterbricht. Alles was ich brauche ist vorhanden: die Weberinnen, die
Geräte mit Ikatgeweben in verschiedenen Phasen der Produktion sowie die Motive,
denen ich hinterherjage. Alle wissen etwas, und eine übertrumpft die andere mit ihrem Eifer. Nachmittags
habe ich viele Seiten in meinem Notizbuch gefüllt: Motivnamen, vermutete
Bedeutungen, Regeln für das Arrangement des Musters in der Kette. Ich bin satt
und zufrieden. Es gibt Übereinstimmungen, es gibt Widersprüche und Ungereimtheiten
oder blanken Unsinn. Aber ich habe eine erste umfangreiche Liste technischer
und ikonografischer Termini der Gewebe der Atoin Meto. Der Beginn einer
Nomenklatur. Und eine Übersicht über die Naturfarben und deren Gewinnung. Eine reichere Ernte als im elegant eingerichteten Wohnzimmer von Jeremia Mellu.
Jegliche unautorisierte gewerbliche Nutzung ist ohne meine ausdrückliche Zustimmung untersagt.
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