Dienstag, 3. November 2020

Ein Yogin im Hinterland


Simon Petrus ist ein Asket. Ein Übender. Ein sich bewusst Werdender. Simon Petrus ist ein Mensch. Was ist er noch? Er ist ein Banamtuan, ein Herr von Banam. Und als ein Banamtuan schaut er auf eine Reihe bedeutender Ahnen zurück. Banam heißt heute Amanuban, ein Landkreis der modernen indonesischen Bürokratie. Im Herzen Westtimors gelegen, eine Savanne: ein hügeliges Land, sanfte Hänge, schroff abfallende Schluchten, bizarre Felsformationen, die Fatu heißen, Skulpturen, von urzeitlichen Bildhauern in die Landschaft geschlagen. Fantastisch!

Eine unerwartete Begegnung

Simon Petrus ist ein Heiler, der Hände auflegt und Beschwörungen murmelt. Ihm zur Seite steht ein mysteriöser Hilfsgeist, der im einst in der Kirche in Mauleum erschienen ist. Im Auge des Ethnographen ist er ein seltsamer Heiliger. Er ist auch Katechist, der sich in Fragen protestantischer Religion auskennt. Simon Petrus ist Traditionalist; soweit das in Amanuban heute noch möglich ist.
Das vorindonesische Banam heißt jetzt Amanuban. Der mysteriöse Charakter dieser Landschaft, den ihr früherer Name evoziert, ist entzaubert. Mythologische Tradition: Ama (Vater) Nuban, die symbolische Personifizierung eines Ur-Vaters, der im Dunkel der Jahrhunderte außer seinem Namen Nuban kaum weitere Spuren hinterlassen hat. Nuban heißt außerdem eine der rezenten Namengruppen der Atoin Meto. Der Name des Herrschers von Banam, der auf dem Tafelberg Tunbes im Osten Amanubans residierte, war Nuban, in der Zeit bevor Nope kam, und eine neue Dynastie gründete. Im Register der rituellen Rede, Tonis, ist immer nur von Banam die Rede, auch wenn die Landschaft jetzt Amanuban genannt wird. Das entsprechende Ortsnamenbündel, das Amanuban in diesen Texten repräsentiert lautet: Nenu und Banam, Bunu und Bi Teno, vier Orte, die als Ursprungsort einer Migration aufgefasst werden müssen, von denen einer Banam heißt, der so bedeutend war, dass er die Landschaft und das politische Reich bezeichnete. Die Amanuban benachbarten Territorien Molo und Miomafo besitzen ein eigenes, unterscheidenes Ortsnamenbündel, das die Migrationsgeschichte des Reich des Sonba`i nachzeichnet: Molo und Miomafo, Pai Neno und Oenam.
Das moderne Amanuban ist ein Verwaltungsbezirk der indonesischen Administration, politisch unter javanischer Hegemonie. Kulturell und politisch ist Amanuban besetztes Land. In der Schule lernen und sprechen die Kinder Indonesisch. Das schriftlose Uab Meto, die Landessprache, ist Umgangssprache in den Dörfern. Disqualifiziert zum Dialekt. Dawan, Hinterwälder, oder erst recht fantasielos Timoresen, nannten die Besatzer und frühen Ethnographen verächtlich die einheimische Bevölkerung der Atoin Meto. Als Hinterwälder, Tagediebe, Wegelagerer und gefährliche Kopfjäger sind sie in die Berichte der niederländischen Missionare, Händler und Reisenden eingegangen und abgewertet worden. Ein ethnisches Vorurteil selbstverständlich. Sie selbst nennen sich die Menschen des trockenen Landes: Atoin Pah Meto. Westtimor ist Savanne seit die Chinesen, Araber und zuletzt die Niederländer und Portugiesen die einst reichen Sandelholzwälder der Insel bis auf den letzten Baum abgeholzt haben. Als die verbliebenen Schiffe der Magellan-Weltumseglung unter Kapitän Juan Sebastián Elcano die Nordküste Timors Mitte des 15. Jahrhunderts erreichten, war Timor eine von Sandelholzbäumen bedeckte Insel, ein gigantischer Sandelholzwald, von dem nichts geblieben ist. So jedenfalls berichtet es der Bordchronist der Expediton, Antonio Pigafetta. Eine rezente Wiederaufforstung: bislang negativ. Bis auf einige wenige ökologische Projekte, meist mit ausländischen Geldern finanziert. Tief im Boden der verkarsteten Insel versteckt liegen riesige unterirdische Wasserreservoirs, die ungenutzt ins Meer abfließen. Landwirtschaft ist ein Glücksspiel mit dem Monsun. Hunger noch nicht ganz Vergangenheit.
Bevor ich den Yogin und Heiler aus dem Hinterwald kennenlerne, begegne ich dem Redner, dem Mund, von dem es heißt dass er natoni spricht, dass er die rituelle Rede beherrscht. In Amanuban existieren drei Sprachen. Allerdings spricht nicht jeder alle. Die Kinder und der größte Teil der Erwachsenen sind mit der Lingua franca der Bahasa Indonesia und dem einheimischen Uab Meto vertraut, eine Minorität der Erwachsenen sind Analphabeten und sprechen, von wenigen Brocken Indonesisch abgesehen nur Uab Meto. Nur wenige, und dann auch nur Männer, sind dazu in der Lage in der stark formalisierten Sprache Tonis elaborierte mündliche Dichtungen aus dem Stegreif zu komponieren, die rituelle Rede der Lebenszyklusrituale, die die ethnische Identität bewahrt und bestätigt.

Im August 1991 nimmt mich Abraham Sakan, ein Freund aus Eno Kiu, mit nach Tetaf, wo ein Verwandter seiner Frau heiratet. Neben der kirchlichen Trauung heiratet in Amanuban der, der es sich leisten kann, inzwischen zweimal: der kirchlichen Trauung folgt die eigentliche traditionelle Hochzeit nach den Regeln der Adat, die meist am späten Nachmittag beginnt und die ganze Nacht gefeiert wird. Während die Gäste bewirtet werden und den Reden der Dichter-Sprecher lauschen, die die sozialen Beziehungen der Brautgeber (atoin amonet) und der Brautnehmer (atoin amafet) thematisieren, wird irgendwann die geraubte Braut zeremoniell dem Bräutigam zugeführt.
Ich begegne Simon Petrus Banamtuan auf dieser Trauung zum ersten Mal. In Tetaf erlebe ich ihn in der Rolle des Sprechers der Brautnehmer Sakan. Karriertes Holzfällerhemd á la Kurt Cobain, das farbige Amanubantuch, den Mau pinaf seiner Väter, malerisch um die Hüften geschlungen. Breite Plattfüße mit zentimeterdicker Hornhaut, Füße, die in keine Schuhe mehr passen. Auch nicht in die allgegenwärtigen Flip-Flops aus Plastik, deren modisch westlicher Touch in Amanuban jeden begeistert. Daneben sind sie praktisch, besonders in der Regenzeit. Sie sind Billigware auf den lokalen Märkten.
Für mich ist Simon Petrus der Höhepunkt der Performance. Körperhaltung, Mimik, Gestik, und der Klang seiner Stimme faszinieren mich. Er ist charismatisch, narzisstisch. Er strahlt ein eisernes Selbstbewusstsein aus. Sein schwarz wirkender Blick aus braunen Augen, beschattet von dichten Brauen, ist bedrängend. Er verrät eine konsequente Persönlichkeit. Ein geübter Redner im traditionellen Ritual, der überzeugende Mund seiner Auftraggeber, während ihrer Geburten, ihrer Hochzeiten und Begräbnisse. Alles an ihm ist betonte Selbstverständlichkeit. Perfekt inszeniert seine Körperhaltung und Ausstrahlung das Image der Atoin Meto-Brautnehmer, ihre sozial untergeordnete Rolle. In zusammengesunkener Haltung sitzt er auf einem Stuhl, berührt mit seinem rechten Knie fast die Erde. Seine während des Redens gefalteten Hände erhebt er flehend in Richtung der Brautgeber, der Klang seiner Stimme ist gedämpft. Bittend richtet er seine Worte an deren Sprecher. Sein Kopf ist respektvoll gesenkt, von unten nach oben schauend. In gespielter Demut empfängt er die herablassenden Erwiderungen seines Rivalen im Rededuell. Sogar in Phasen allgemeiner Heiterkeit, ausgelöst durch die arroganten Antworten des Sprechers der Brautgeber, verharrt er in dieser Stellung. Seine Reaktion: nur ein beschwichtigendes Lächeln, sein Blick bleibt gesenkt. Er ist der Bittsteller. Er ist sich bewusst, dass er die höher gestellten Brautgeber Tanoen um eine Mildtätigkeit für die Brautnehmer Sakan bittet. Seine ganze Haltung drückt Ehrerbietung und Respekt aus, keine Unterwürfigkeit. Ein kulturelles Ideal zwischenmenschlicher Interaktion schreibt ihm eine bis an die Grenze der Selbsterniedrigung gehende Theatralik des Ausdrucks vor. Mimik und Gestik sind Ausdruck von Respekt und Verehrung. Stolz, Arroganz und andere Formen der eigenmächtigen Selbsterhöhung sind wenig geschätzte Verhaltensweisen in Amanuban. Redegewandtheit und Schauspielkunst verbinden sich in Simon Petrus Person. Sein Auftritt in Tetaf ist von Dramatik und Theatralik getragen. Eine Performance, Spiel und Spiegelfechterei, eine geschickte Rede, die kulturelle Normen und Werte thematisiert.

Im Haus des Yogin

Einen Monat später fahre ich mit Abraham nach Mauleum, ein Dorf in Ostamanuban. Dort leben die Eltern seiner Frau, Johana Lanu`. Wir wollen seinen Schwiegervater besuchen, der totkrank danieder liegt. In Leti, einem Ortsteil Mauleums, wohnt auch der Redner aus Tetaf. Mit wem ich es wirklich zu tun bekomme, erfahre ich erst an diesem späten Septembertag. In einer anderen seiner vielen Rollen ist Simon Petrus Banamtuan Mitglied der protestantischen Kirchengemeinde in Mauleum. Dort bekleidet er das Amt eines Penatua, eines protestantischen Laienpredigers. Er arbeitet als Katechist und Religionslehrer in den Dörfern und Schulen der Region. Er betreut und unterrichtet Kinder und Erwachsene in religiösen Angelegenheiten.
Simon Petrus gibt sich überrascht. Es scheint als habe er unseren Besuch nicht erwartet. Aber wer weiß das schon so genau in einem Land, in dem viele Männer Künstler der Selbstinszenierung sind, Schauspieler, die öffentliche Rollen spielen, ihrem kulturellen Männerbild entsprechend. Wir werden aufgefordert einzutreten und uns auf Lontarmatten an die Seitenwände des Zimmers zu setzen. Simon Petrus lässt sich in einem den Raum beherrschenden hölzernen Lehnstuhl nieder. Stühle sind in Häusern in Amanuban selten und wenn sie vorkommen, so werden sie dem Gast als Sitz angeboten. Besonders geehrten und sozial höher stehenden Gästen. Zum ersten Mal sitze ich bei einer solchen Gelegenheit auf dem Boden. Zum ersten Mal wird mir kein Stuhl angeboten. Angenommen habe ich das Angebot nie, denn es war mir unangenehm, höher als die anderen zu sitzen. Doch es fällt auf, und charakterisiert den Gastgeber, der sich als höchste Autorität im Raum versteht. Simon Petrus hat eben besondere Vorstellungen von seiner und meiner Rolle und unseren gegenseitigen Erwartungen. Der erste Hinweis darauf, dass ich es mit einer besonderen Persönlichkeit zu tun habe, die sich mir gegenüber nicht nur so positioniert, die dies auch so empfindet und umsetzt.

Unerwartet beginnt Simon Petrus seine erste Meditation. Ich falle aus den sprichwörtlichen Wolken. Ein Yogin, ein Sadhu im Hinterwald, ein Asket mit überraschender Leibbemeisterung. Einen solchen habe ich nicht erwartet. Der Yogin, so nenne ich ihn im Stillen, stützt seine Ellbogen auf die Lehne seines Lehnstuhls und verschränkt die Hände zum Gebet. Seinen Kopf beugt er tief auf seine Brust herab. Wie ich später erfahre, ruft er in diesem Moment seinen Hilfsgeist an, den er Si Bae nennt, und als einen Verwandten betrachtet. Nach schweigsamen Minuten des Beisammenseins lässt er sich unerwartet und übergangslos aus seiner sitzenden Position auf die Knie fallen, kniet mit gesenktem Kopf und Oberkörper auf dem Boden. Wieder vergehen lange Minuten in denen nicht gesprochen wird. Unvermittelt steht er auf und stellt sich aufrecht vor eins der naiven Jesusbildchen, die in Amanuban weit verbreitet sind, und die mich an die Heiligenbildchen der 1950er Jahre erinnern, die Fleißkärtchen, die ich als Schulkind eifrig sammelte. Neben den Bildchen hängt ein rotes Kreuz an der sonst schmucklosen kahlen Wand. Simon Petrus erhebt beide Arme, mit zum Kreuz geöffneten Handflächen und verharrt meditierend in dieser Position. Wieder bückt er sich tief hinunter, bis er mit dem Scheitel den Boden berührt, legt seine Unterarme so auf den Boden, dass sie um den Kopf herum ein Dreieck bilden und richtet sich in zwei Zügen auf. Auf dem Kopf stehend verharrt er erneut in stummer Meditation. Plötzlich verstehe ich ihn: Auf dem Kopf stehend, denke ich, sieht er die Dinge natürlich anders.
Nach der Meditation beginnt das Gespräch, zu meiner Enttäuschung in Uab Meto, sodass ich nur Ausschnitte verstehe, ohne den Sinn zu begreifen. Er fragt nach meiner Religion, ist von meinem Katholizismus nicht begeistert, kommentiert meine Antwort mit einem ausgiebigen Räuspern. Simon Petrus sitzt wieder im Lehnstuhl. Erhöht. Höher als die anderen im Raum. Ob er mir seine Rede in Tetaf erläutern und kommentieren will, lässt er offen. Ich fühle es: Er mag mich nicht. Er verhält sich abstinent. Wie ein versierter Psychoanalytiker. Bemüht auf mich mysteriös zu wirken und mich durch seine schweigsame Ignoranz zu verunsichern. Meine Begleiter sitzen still, auf Lontarmatten, die entlang der Wände liegen. Ihr Schweigen ist beredt. Sie erleben diese eigenartige Performance nicht zum ersten Mal. Bewunderung liegt in ihren Mienen.

In Amanuban geschehen oft mehrere Dinge gleichzeitig, was mich immer an C.G. Jungs Theorie der Synchronizität erinnert. Es kommt weiterer Besuch: Auch Simon Petrus hat einen Sprecher, aber einen Sprecher anderer Natur, als er selbst in Tetaf einer war. Ich kann nicht sagen, ob er zufällig vorbeikommt, mein Motorrad sieht, neugierig hereinschaut oder ob nach ihm geschickt wurde. Josephus Sole, so heißt der Mann, übernimmt im Verlauf des Gesprächs die Rolle des Übersetzers, Kommentators und Interpreten der eigenartigen körperlichen Performance des Simon Petrus, deren Zeuge ich soeben wurde. Simon Petrus weigert sich weiter beharrlich mit mir Indonesisch zu sprechen. Als Penatua ist er des Indonesischen mächtig, daran besteht kein Zweifel.
Erneut wird der Anlass für meinen Besuch in Uab Meto diskutiert. Erneut stellt Simon Petrus seine körperliche Beweglichkeit und artistische Geschicklichkeit zur Schau. Er erhebt sich ein zweites Mal von seinem Thron, und rückt den einzigen Tisch im Raum zur Seite. Auf dem Boden, in der Mitte des Zimmers, breitet er zwei rechteckige Jutesäcke aus, während wir, sein Publikum, noch immer auf Lontarmatten an den Seitenwänden seines Empfangzimmers sitzen. Dann zieht er sein Hemd aus, verharrt kurz aufrecht stehend und stellt sich erneut in schnellen fließenden Bewegungen auf den Kopf. Dieses Mal hebt er seine Beine nicht in die aufrechte Position des Kopfstandes, sondern lässt sie angezogen wie in umgekehrter Hockposition. Auf dem Kopf stehend dreht er seinen Oberkörper zuerst langsam nach rechts, dann nach links, wobei er seine Beine abwechselnd gegen die Decke ausstreckt. Systematisch bewegt er sich nach einem mir unverständlichen Muster. Zuerst streckt er ein Bein gerade nach oben, dann erst folgt die Streckung des Fußes. Kaum ausgestreckt, zieht er sein Bein wieder in die auf dem Kopf aufgebaute Hockstellung zurück, um es zur Seite hin abzuwinkeln. Während er seine Beine abwechselnd auf diese Weise bewegt, dreht er seinen Oberkörper um seine eigene Achse. Auf dem Kopf stehend hyperventiliert Simon Petrus in hörbarem Rhythmus, fast melodiös, stellenweise unverständliche Laute bildend. Nur der langsame, bedächtige Rhythmus seiner Bewegungen verweigert ihnen den Namen Breakdance.
Noch während Simon Petrus in seiner Meditation verharrt, erläutert Josephus mir den Sinn des Geschehens. Geduldig und ausführlich weist er mich auf jede Besonderheit der eigenartigen Leibbemeisterungstechnik des protestantischen Penatua hin. Das Resultat seiner rituellen Befragung, denn um nichts Anderes handelt es sich den Übungen, fällt für mich positiv aus. Meiner Bitte um Datenerhebung und Erläuterung des Geschehens in Tetaf wird entsprochen. Mit gönnerischer Geste werde ich entlassen, und für den Rest auf später vertröstet. Anscheinend mag mich Simon Petrus doch. Mein Interesse steigert sein persönliches Prestige. Wie dem auch sei: Unser Kontakt bedurfte eines Rituals. Viel später erzählte er mir, es sei sein Mittel, Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen. Nach den akademisch auftretenden „Heiligen“ aus Kuan Fatu, die dem alttestamentlichen Moses nacheifern, nun ein schamanischer Heiliger in der Tradition des Neuen Testaments, in der Tradition des „Nimm dein Bett und wandle!“

Das Ritual des Yogins

Ich bin überrascht und irritiert von dem, was mir Simon Petrus Banamtuan an jenem Septembertag in seinem Hause vorführt. Ich bin nicht davon ausgehen, dass meine Bitte um Erläuterung einer ethnographischen Situation und um Datenerhebung so endet. Ich wäre auch nicht enttäuscht gewesen, hätte er sich geweigert, denn seiner Wiederholung hätte die Atmosphäre des Authentischen gefehlt. Meine Absicht, sie als Vorbereitung für kommende rituelle Perfomances zu nutzen, war damals noch ungeplant. Als Simon Petrus mich an diesem Nachmittag mit seiner divinatorischen Performance konfrontiert, begreife ich sie nur fragmentarisch. Erst Tage später verstehe ich das Erlebte. Technik und Durchführung des Rituals in Leti sind dem Modell einer schamanistischen Jenseitsreise nachgebildet. Das Ritual, das Simon Petrus bei sich zu Hause durchführte, diente der Abkühlung.
Die Kultur der Atoin Meto verfügte einst über eine Reihe von Ritualen, die erforderlich waren, wenn Personen oder Objekte aus der heißen, äußeren Sphäre in die kühle, wohltemperierte Sphäre des Dorfes oder der Gemeinschaft integriert werden mussten. Die Polarität heiß-kühl (manas–mainikin) beziehungsweise außen-innen (mone`–nanan) korrespondiert in diesen Ritualen mit den Kategorien indigen-fremd (meto–kase). In der Perspektive des Traditionalisten Simon Petrus war ich kase und musste demzufolge abgekühlt, ungefährlich, vertraut, im weitesten Sinne einheimisch (meto), gemacht werden.
Neben seiner offiziellen Tätigkeit als Penatua bekleidet Simon Petrus ein weiteres Amt, das sich, mit westlichen Maßstäben gemessen, nicht in den Rahmen der protestantischen Lehre und Kirche einfügt. Wie die regionale Kirche Amanubans diese Fähigkeit wertet, weiß ich nicht. Der Ausübung seiner kirchlichen Funktion scheint sie jedoch nicht im Weg zu stehen. Die beschriebenen Techniken der Leibbemeisterung, die Simon Petrus verwendet, ermöglichen es ihm, mit einem übernatürlichen Wesen aus dem Himmel Kontakt aufzunehmen. Josephus nennt mir in seiner Übersetzung der Erläuterungen von Simon Petrus den Namen dieses Wesen. Er nennt ihn den himmlichen Messenger Si Bae, der Simon Petrus vor Jahren während einer Meditation in der Dorfkirche als kleiner Mann erschienen ist. Ihm stellt er seitdem seine Fragen, von ihm erhält er Antworten auf seine Fragen, Entscheidungshilfen und Lösungsstrategien für alle möglichen Schwierigkeiten seiner Gemeinschaft. Si Baes Antworten wendet er zum Wohl seiner Mitmenschen an. Seine Leibtechnik, die Si Bae ihn lehrte, ist das Medium, das ihm den Kontakt zu diesem Himmelsboten ermöglicht.
Mit Hilfe von Körper- und Atemtechniken, die stark an den indischen Yoga erinnern, versetzt sich Simon Petrus in eine ekstatische Trance. Diese Technik vermittelt ihm eine besondere psychische Konstitution, ein erweitertes, paranormales Bewusstsein. Auf eine solche psychische Konstitution verweisen die von ihm erlebten Träume und Ohnmachten. Nur sehr vage berichtet er über die genaue Art und Weise, in der er den Empfang dieser Botschaften aus dem Himmel organisiert, über den konkreten Charakter dieser Botschaften. Es scheint jedoch, dass er diese Botschaften als ein passives Gefäß in sich aufnimmt. Von konkreten Berichten und Details einer schamanistischen Reise ist keine Rede. Seine Körper- und Atemtechniken, besonders die von ihm benutzte Hyperventilation, weisen in diese Richtung, denn erst so gelingt ihm die Kommunikation mit dem Himmel. Si Bae ist sein Hilfsgeist, der eine wichtige Rolle bei der Übermittlung der speziellen Gebete und Wünsche dieser rituellen Performance spielt.

Die Verbindung von Wort (Gebet) und Handlung (Körper- sowie Atemtechnik) verweisen die Performance Simon Petrus in den Bereich des Rituals. Die gemeinsame Verwendung von Wort und Handlung versetzen ihn in eine gesteigerte Sensibilität, in der er die diffuse Gestalt Si Baes wahrnehmen kann. Als dessen Medium tritt er mit Anderen (den Hilfesuchenden) in Verbindung und überbringt ihnen eine heilsame Botschaft. Neben seiner Tätigkeit als Penatua erfüllt er Aufgaben, die in anderen Gemeinschaften dem Schamanen oder Psychotherapeuten obliegen. Auf jeden Fall aber liegt seiner Technik eine psychosomatische Theorie zugrunde. Es wäre interessant zu wissen, ob er seine Funktion als eine moderne Variante des einstigen der Mnane versteht, dem sogenannten Priester der Atoin Meto, der wahrscheinlich ein Schamane war. Doch damit berühre ich ein weiteres Tabuthema der Atoin Meto in Amanuban, und die Überlieferungen über diesen Funktionsträger, der mit Seelenvorstellungen und deren Schicksalen zu tun hatte, sind in der Literatur zu dünn gesät.
Es bleibt nur die Vermutung, dass Simon Petrus ein moderner Mnane ist, der sich problemlos in die regionale protestantische Kirche einfügt, denn er verbindet in seiner Tätigkeit indigene und fremde Vorstellungen, die an eine synkretistische Reliogiosität denken lassen, was nicht erstaunt, da die Menschen in Amanuban vor der Herausforderung stehen, ihre indigenen Überzeugungen zu bewahren und gleichzeitig neue Normen und Werte in ihre Weltanschauung zu integrieren. In seiner Rolle als Penatua ist er der christlichen Lehre und einem indigenen Synkretismus verpflichtet. Hilfreich sind dabei die vielen alttestamentlichen Stellen, die mannigfaltige Ansatzpunkte bieten, überlieferte religiöse Überzeugungen der Atoin Meto in Form kultureller Mimikri zu tradieren. Das Wirken charismatischer Persönlichkeiten im kulturellen Untergrund Amanubans, wie Simon Petrus eine ist, ist ein Ergebnis dieses religiösen Synkretismus, ein Arrangement kultureller Überlieferungen mit dem Christentum.

Copyright 2019-2021. All Rights Reserved (Texte und Fotografien)

Amanuban Mon Amour ist urheberrechtlich geschützt. Alle Websites und Inhalte dieses Blogs dürfen nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte gewerbliche Nutzung ist ohne meine ausdrückliche Zustimmung untersagt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen