Montag, 30. November 2020

Die Verrotzten und Verheulten


Der Tod gehört zu den Unvermeidlichkeiten der menschlichen Existenz. Die griechische Lyrik nennt die Menschen die dem Tage ausgesetzten (ephemeroi) und Heidegger spricht von der Endlichkeit menschlicher Existenz. Die Gestaltung des Sterbens und der Umgang mit dem Verstorbenen sind kulturspezifisch unterschiedlich. In der Auseinandersetzung mit dem Tod entwickelt jede Kultur eigene Strategien der Tröstung. Bei uns verliert das Sterben zunehmend seine Bedeutung als Angelegenheit der ganzen Familie. Immer seltener versammeln sich die mütterlichen und väterlichen Verwandten um die im Hause aufgebahrte Leiche, finden Trost und Hoffnung in der gemeinsamen Klage, und organisieren und zelebrieren Trauerzug, Begräbnis und Totenmahl als wichtige Bestandteile des letzten Übergangsrituals, das der bewussten Erfahrung des Menschen zugänglich ist.

Am 25. Oktober 1991 starb Felipus Lanu`. Er verbrachte sein Leben in der kleinen Siedlung Leti in Ostamanuban, einem der acht Landkreise im indonesischen Südzentraltimor. Der alte Lanu` gehörte zur großen Bevölkerung der Atoin Meto, die sich selbst die Einheimischen nennen. Sein Tod traf niemanden überraschend. Er kam nicht mit der Plötzlichkeit des gefürchteten schlimmen Todes, der einen Menschen unerwartet aus dem Leben reißt. Die Atoin Meto nennen diesen Tod den draußen erlittenen Tod, den maet mone`, den unreifen Tod, und interpretieren ihn als Konsequenz passiver Betroffenheit durch die Handlungen numinoser Mächte. Felipus Lanu` dagegen erreichte ein hohes Alter. Sein Sterben war ein reifer Tod, der ihn am Ende eines langen Lebens ereilte.
Vor Monaten brach der alte Lanu` unerwartet zusammen. Seitdem war er bettlägerig und an das Haus gebunden. Das Licht, das durch die beiden Türen seines Krankenzimmers fiel, erhellte den fensterlosen Raum nur spärlich. Der Rauch eines niedrigen Feuers neben dem Bett wärmte den Kranken, brannte aber in den Augen und warf lange Schatten an die Wände. Es schien, als ob die unruhig tanzenden Schatten einen Teil des Tageslichts verschluckten, um barmherzig das abgezehrte Äußere des Todkranken zu verhüllen. Als ich Felipus Lanu` zum ersten Mal traf, war sein Körper abgemagert und seine Haut spannte sich wie rissiges Pergament um seine Knochen. Sein Blick schweifte abwesend in die Ferne und die Rede des einstigen Mund des Regenten (des Mafefa genannten Regierungssprechers) klang schwach und verworren. Tag für Tag, und Woche für Woche, verbrachte er auf seiner harten, kaum gepolsterten Bettstatt. Am Ende war sein Rücken eine offene Wunde, die ihn bei jeder Bewegung schmerzte.
Uns mag die Umgebung, in der Felipus Lanu` seinen Tod erwartete, unwürdig erscheinen. Trotzdem, der Sterbende im fernen Timor hatte uns etwas Wesentliches voraus. Er erwartete den Tod in seinem eigenen Haus, und er genoss das Privileg, im Kreise seiner Familie sterben zu dürfen. Die Frauen seines und der Haushalte seiner Schwiegersöhne umsorgten ihn bis zuletzt und der Anblick seiner Enkel, die täglich um ihn waren, tröstete ihn. Ihre Anteilnahme gab ihm bis zuletzt Kraft und Zuversicht, denn in ihnen erblickte er sich selbst. Das intime, emotionale Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln bestätigt den alten Leuten, dass sie noch leben und jemandem am Herzen liegen. Die kleinen Kinder sind Knochen und Samen (weißes Blut) der patrilinearen, Fleisch und Blut der matrilinearen Verwandten. Enkel setzen den Weg fort, den ihre Vorfahren einst betraten, und den auch Felipus Lanu` ein Stück weit ging.
Für seine Angehörigen und Verwandten brachte der Todesfall zahlreiche Verpflichtungen mit sich. Alle vom Todesfall in Leti Betroffenen mussten benachrichtigt und die finanziellen Mittel zur Durchführung seines Totenrituals aufgebracht werden. Gemeinsam übernahmen Brautgeber und Brautnehmer, die als weibliche Kinder (an feto) und männliche Kinder (an mone) aneinander gebunden sind, ihre unterschiedlichen Pflichten gegenüber dem Verstorbenen.

Spät am Abend des Todestages waren die meisten Verwandten eingetroffen. Nur die weiter entfernt siedelnden Familien hatten Leti noch nicht erreicht. Erdölbetriebene Lampen erleuchteten das Gehöft der Lanu`. Unter dem Lopo, einem grasgedeckten Kegeldach auf vier Pfosten, lag Felipus Lanu`s Leiche auf der gleichen hölzernen Bettstatt, auf die ihn seine Krankheit gezwungen hatte. Unter der niedrigen Plattform brannte ein schwelendes Feuer, dessen nach Orangen und Sandelholz duftender Rauch das Innere des offenen Gebäudes erfüllte. Der Verstorbene war in mehrere Umschlagtücher mit filigraner Hakenmusterung gewickelt. Nur sein Gesicht blieb unverhüllt. Solche Kleidung trug der alte Mann sein ganzes Leben; am Ende begleitete sie ihn ins Grab. Über das Grab hinaus beschützen ihn die rückwärtsweisenden Widerhaken vor negativen Einflüssen. Über seiner Leiche, ganz oben in die Kuppel des Lopo, hatten die Frauen der Lanu` ein weiteres Umschlagtuch ausgespannt. Wieder waren es die Hakenmotive, die die Ruhe des Toten und seinen letzten Aufenthalt im Weiler sicherten.
Klagende und weinende Frauen umgaben Felipus Lanu`s Leiche. Schluchzend saßen sie neben ihm, berührten die Leiche ein letztes Mal oder warfen sich wehklagend auf den Toten. Ihre tränennassen Gesichter, ihre vor Schmerz bebenden Oberkörper, legten beredt Zeugnis von der Trauer ab, die angesichts des Todes über sie gekommen war. Die gemeinsame Situation der Trauerklage steigerte ihre Ergriffenheit weiter. Der Klagegesang, den die Frauen um Felipus Lanu` angestimmt hatten, war ein monotones Jammern in weinerlichen Falsettönen. Die Klage hüllte den Lopo in eine Atmosphäre von Trauer und Schmerz, der sich keiner der Anwesenden entziehen konnte.

Lukas Banamtuans mündlicher Epitaph

Nur allmählich drang Lukas Banamtuans Stimme durch das dichte Gespinst der Traurigkeit. Zuerst mischte sich die Rede des Vaters des Ursprungs (am uf) noch mit der Klage der Frauen. Stetig lauter werdend schwang sich der sonore Klang seiner Stimme schließlich über die wortlose Trauer der Frauen und zwang die Aufmerksamkeit der Trauergemeinde in den Bann seiner Worte:

[. . .]
11 Na Timo ist nun gefallen und schläft schon,
12 und Na Manes wird bald der große Mund und die große Stimme sein.
13 In diesem Weiler und an diesem Ort
14 zerrissene Kleidung und Tränen
15 unseres geliebten Vaters und unseres geliebten Bruders.
16 Wir schweigen nicht und wir kommen nicht ohne Gaben.
17 Die Stimme folgt dem Weg und verkündet ihn,
18 durch die Weiler und durch die Orte
19 seiner Kinder und seiner jüngeren Brüder.
20 Wir Kinder und jüngeren Brüder,
21 wir Väter und Mütter,
22 schon kamen wir zu dir,
23 in diesen Weiler und an diesen Ort.
24 Wir sagen: Du bist in Staub gebadet und in trübem Wasser.
25 Wir treten ein – ergriffen und weinend,
26 folgen dem Weg und erzählen den Weg.
27 Baden mit dir in Staub und in trübem Wasser,
28 mit laufenden Nasen und tränennassen Augen.
29 Wir sind die Verrotzten und die Verheulten,
30 baden in Staub und in trübem Wasser.
31 Laß es mich richtig sagen
32 und es dir ehrlich bekunden – Bi Kefi und Bi Timo.
33 Na Liko ist gefallen und schläft schon.
34 Selbst wenn du im Staub badest gehören wir zusammen,
35 und auch im trüben Wasser gehören wir zusammen.
36 Dies möchte ich dir sagen,
37 möchte es dir aufrichtig und ehrlich mitteilen.
[. . .]

Die Rituale der Atoin Meto sind geredete Rituale. Männern in einflussreichen Positionen obliegt die poetische Komposition einer mündlichen Dichtung (tonis), bei der sie sich der Stilmittel Rhythmik und Parallelismus bedienen. Unter Verwendung zahlreicher, komplex aufeinander bezogener Symbole, produzieren sie Texte, die der Ritualgemeinschaft und dem Anlass des Rituals angemessen sind. In dieser Nacht ergriff Lukas Banamtuan als Repräsentant der Trauernden und Vertreter des Verstorbenen das Wort. In ritueller Rede, deren Versbau und Metaphorik auf einem überlieferten, kanonischen Repertoire beruht, bringt er die Gefühle der Anwesenden zum Ausdruck. Im Anschluss an die oben zitierte Kondolenz fährt der Vater des Ursprungs mit einem biographischen Nachruf zu Ehren des schlafenden Lanu` fort.
Kompositionen wie dieses Textsegment werden deshalb Tonis genannt, weil sie auf etwas hinweisen, wie mit dem ausgestreckten Finger auf etwas zeigen. Erweitert man diese Bedeutung durch den Kontext, in dem dieses Wort vorkommt, ist mündliche Dichtung, vorgetragen in ritueller Rede die geeignete Übersetzung. Die für die Rituale der Atoin Meto charakteristischen, poetischen Texte bilden ein mündliches, literarisches Genre. Die Aufgabe dieser Literaturgattung besteht in der Überlieferung biographischer Details bedeutender Personen und wichtiger Ereignisse einer regionaler Geschichte: Die Toten sind nicht tot, weil man sich an sie erinnert.

Es sind vor allem zwei Metaphern, in denen der Redner die Trauer und den Abschiedsschmerz der Anwesenden ausdrückt und mit denen er die Gemeinschaft des Verstorbenen mit den Lebenden über den Tod hinaus beschwört. Einerseits versichert die poetische Rede Zusammengehörigkeit und Solidarität; Lebende und Verstorbene, so Vers 24, baden gemeinsam im Staub und im trüben Wasser (kuk afu ma meu`kel). Das Waschen im Staub und im trübem Wasser signalisiert die Betrübnis, die Felipus Lanu`s Tod über seine Angehörigen gebracht hat. Wie keine andere, drückt gerade diese Metapher die wehmütige und gedrückte Stimmung, den Jammer und den Verdruss um den Verstorbenen aus. Die ungepflegte äußere Erscheinung, die alte, schmutzige und zerrissene Kleidung der Trauernden, verstärken den Eindruck der poetischen Rede von Lukas Banamtuan. Äußerlichkeiten wie diese stehen in einem schrillen Kontrast zu den freudigen Ereignissen der Geburt und Heirat. Prächtig verzierte und farbenfrohe Kleidung, wertvoller Körper- und Haarschmuck sowie sorgfältig gekämmte und vom reichlich gebrauchtem Kokosöl glänzende Frisuren dominieren während dieser Feste. Die Pracht und der Glanz der Geburts- und Heiratsrituale kontrapunktiert den Staub und das trübte Wasser des Totenrituals. Das Waschen im Staub bedeutet aber auch das Sitzen auf dem nackten Erdboden. Während eines Totenrituals breitet niemand aus Lontarblättern geflochtene Matten aus: Die Teilnehmer sitzen im Staub des Hofes. Und das trübe Wasser (oe meu`kel): Es ist Symbol für den niedergeschlagenen, vom Weinen getrübten Blick der Trauernden, in dem sich nicht der Glanz und das Leuchten freudiger Ereignisse widerspiegelt. Christliche Atoin Meto erinnern in diesem Zusammenhang an den trauernden König David, der seine Kleidung zerriß und sein Haupt mit Asche bestreute.
Auf der anderen Seite evoziert das Bild der laufenden Nasen und der tränennassen Augen (panan pelo ma matan nu) in Vers 28 den Schmerz und den Kummer, der jeden Ritualteilnehmer im Angesicht der Leiche von Felipus Lanu`, dem Ehemann und Lebensgefährten, dem Großvater und Vater, dem Bruder und Schwager, ergreift. Der Vers, der die Trauernden als die Verrotzten und Verheulten vorstellt, ist die zentrale Formulierung des zitierten Textsegments. Diese Metapher veranschaulicht nicht nur die Emotionen und das Selbstverständnis der trauernden Gemeinde, er markiert auch den erheblichen Wandel, den das Totenritual der Atoin Meto in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat.
Die Verrotzten und Verheulten, das sind die am Totenritual teilnehmenden Brautgeber und Brautnehmer, die Hinterbliebenen, die gemeinsam den Tod ihres verstorbenen Verwandten beklagen. Das Bild der laufenden Nasen (panan pelo) und der tränennassen Augen (matan nu) bildet ohne Zweifel den besten Vergleich, um den, an der aufgebahrten Leiche schluchzenden und weinenden Frauen gerecht zu werden. Nur allzu deutlich zeugt ihr nasses Gesicht von ihrem Leid und ihrer Trauer. In ritualisierter Form schreien sie ihre Klage hinaus. Das Vergießen von Tränen im Zustand der Trauer könnte die sinngemäße Übersetzung dieser Metapher lauten.
Wir verdanken unser Wissen von der Relevanz dieser Metapher dem protestantischen Missionar Pieter Middelkoop. Seiner Aufmerksamkeit ist es nicht entgangen, dass die formelhafte Metapher von den Verrotzten und Verheulten nur die eine der am Totenritual teilnehmenden Gruppen nennt. Inzwischen ist das Wissen, dass der Vater des Ursprungs in der nicht-christlichen Vergangenheit der Atoin Meto eine weitere Gruppe aufforderte, sich zum Totenritual einzufinden, in Amanuban fast verloren gegangen. Pieter Middelkoop hat jedoch den Namen dieser zweiten Gruppe festgehalten. Er nennt sie die Klargesichtigen und Helläugigen (human miu matan miu) und schreibt über diese Gruppe, deren Gesichtsausdruck in einem eigenartigen Gegensatz zu dem der Verrotzten und Verheulten steht: Was die Hum miu-Gruppe betrifft, scheint sie mir den Verstorbenen und all diejenigen zu symbolisieren, die früher gestorben sind. Er nennt sie im gleichen Zusammenhang die Menschen von der anderen Seite. Diejenigen aber, die am anderen Ufer des Flusses wohnen, sind die patrilinearen Ahnen.
Die von der lokalen Adat geregelte Durchführung der Lebenszyklusrituale, wozu auch das Totenritual gehört, erfordert die Anwesenheit des Vater des Ursprungs oder des vatergleichen Mannes (atoin amaf). Ohne einen dieser beiden Funktionsträger, die den wichtigsten Phasen des Rituals vorstehen, kann die Gemeinschaft den Abschied vom Verstorbenen nicht zelebrieren. Pieter Middelkoop berichtet auch von den zwei Türen und den zwei Wegen (eno ma lanan), einer anderen wichtigen Metapher der mündlichen Dichtung. Die Tür und der Weg ins Leben, das ist die Geburt. Dort garantieren die Hum miu Mat miu, die verstorbenen Ahnen, ihren Nachfahren Fruchtbarkeit und Nachkommenschaft. Die Pan pelo Mat nu, die Trauernden, stehen an der Tür und auf dem Weg des Todes. Auf der Schwelle dieser Tür, am irdischen Ende dieses Weges, steht der vatergleiche Mann, janusköpfig in beide Richtungen gewandt und zwischen Lebenden und Verstorbenen vermittelnd. Er repräsentiert die Lebenden, die ihren verstorbenen Verwandten verabschieden und ihm den Weg zu den Ahnen weisen, die ihn empfangen.
Im Namen des Verstorbenen wendet er sich an die Ahnen und bittet sie, den Strunk der Banane und den Strunk des Zuckerrohrs (natetu uki tukluan tefu tukluan) wieder aufzurichten. In dieser botanischen Metaphorik, die in den Reden der Totenrituale eine eminent wichtige Position einnimmt, äußert sich die Hoffnung, dass die Ahnen die Leere, die ein Verstorbener hinterlässt, durch ein neues Leben ausfüllen. Angesichts des individuellen Todes korrespondiert dieser Überzeugung die Gewissheit, niemals sterben zu müssen. Den Tod, durch die Leiche des Verstorbenen vor Augen, entsteht aufs Neue die Hoffnung, diesen Tod zu überleben.

Wer sind diese Ahnen, denen die nicht-christlichen Atoin Meto die Macht über Leben und Tod zutrauten? Die Ahnenverehrung dieser ostindonesischen Ethnie wurzelte in der Überzeugung, dass die Ahnen Träger der Lebenskraft sind. Als verehrte Großmütter und Großväter (be`i nai) ruhen sie in dem Boden, den sie einst bewohnten und bebauten und von dem ihre Nachkommen heute leben. Sie stehen deshalb in einer besonders engen Beziehung zur Erde und ihren Vegetativkräften: Die Ahnen sind die neues Leben spendenden Garanten der Fruchtbarkeit. Für diese Überzeugung spricht vor allem die unerschütterliche Autorität des Mutterbruders, des vatergleichen Mannes, des Atoin amaf. Dieser steht an der Türschwelle des Todes und des Lebens, wo er den soeben Verstorbenen entlässt und die früher Gestorbenen um neues Leben bittet. Um solche Überzeugungen zu verstehen, muss man weit in die Vergangenheit Amanubans zurückblicken und voraussetzen, dass der Mensch jener Zeit in einem kaum individuierten, ununterschiedenen Raum lebte. Die unscharfe Wahrnehmung von quantitativ erfahrbaren, räumlichen Unterschieden wie Diesseits und Jenseits impliziert eine schwache Ich-Wahrnehmung. Zur Objektivierung des Raums gehört ein Individuum, das sich diesem Raum emanzipierend gegenüberstellt. Dieses ununterschiedene In-Der-Welt-Sein, die innige Verbundenheit von Mensch und Natur, bildet einen starken Kontrast zum distanzierten Gegenüber-Der-Welt-Sein der abendländischen Kultur. Solange dem Raum die Grenze, die das Diesseits der Menschen vom Jenseits der Verstorbenen trennt nicht zugemutet ist, erleidet der Verstorbene keine Vernichtung im Tod. Diese Überzeugung vermeidet die Identifikation von Tod und Nichts. Die Vorstellung von der Zerstörung der personalen Integrität im Tod besitzt in dieser Weltanschauung keinen Ort. Der Verstorbene wechselt lediglich in einen anderen Zustand über. Das ursprüngliche Totenritual der Atoin Meto war nur eines der vielen Rituale in ihrem Leben, das den Übergang in eine andere Existenz markierte. Dieses Denken gestattet keine Differenzierung zwischen dem Leichnam und dem Ahnen. Im Hinblick auf die Kanaken Neu-Kaledoniens bezeichnet Maurice Leenhard den Ahnen als den Verschiedenen, der zu Lebzeiten einen Körper als seine gesellschaftliche Bekleidung besaß: Dieser gesellschaftlichen Bekleidung nunmehr beraubt, ist er unzeitgemäß geworden. Er hat keine Funktion mehr in der Gesellschaft, er ist ein Defunctus. Der Verschiedene (défunt) in diesem Sinne ist kein Toter, er ist ein außer Betrieb Gesetzter.
Auch diejenigen von der anderen Seite des Flusses, die Pieter Middelkoop erwähnt, wohnen im Diesseits und im gleichen Raum mit ihren lebenden Verwandten. Dieses Dorf auf der anderen Seite ist von dieser Welt und kein metaphysisch abgeschiedener, distanzierter Raum wie der griechische Hades oder der christliche Himmel. David Howes berichtet, dass auch auf Tanimbar die Ahnen im gleichen Raum untergebracht sind wie die Lebenden, und die totale Gemeinschaft der Ngaju Dayak, die Hans Schärer beschrieben hat, siedelt ihre Toten nicht in einem Jenseits an, sondern in den flußabwärts liegenden Dörfern. Die totale Gemeinschaft, die kosmische Kultgemeinschaft, wie Kurt Tauchmann sie genannt hat, umfasst nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten.
Nach der Überzeugung der sogenannten altindonesischen Bevölkerungen bewohnen Lebende und Verstorbene einen gleichsam undifferenzierten, zusammengezogenen Raum. Damit die Toten weiter an der Welt und den Ritualen der Lebenden teilnehmen konnten, muss nicht nur die Raum-, sondern auch die Zeiterfahrung eine andere gewesen sein. Hermann Schmitz deutet diese Zeitvorstellung an, wenn er von der Auferstehung der Toten spricht, die darin besteht, dass nichts mehr vorbei ist, weil kein Abschied mehr die Vergangenheit von der Gegenwart trennt, sobald die Zukunft ausbleibt, durch deren Eintreten die Gegenwart aus der Dauer, die dann als Vergangenheit zurücksinkt, abgerissen wird.
In Amanuban heißen die Verstorbenen Nitu, eine Bezeichnung, die gleichzeitig Leiche und Totengeist bedeutet. Pieter Middelkoop bemerkte treffend, dass die Ahnenverehrung der Atoin Meto auf der Anrufung der lebenden Leichen ihrer Verstorbenen beruht, die die Macht des Todes vergegenwärtigen. Das Totenritual der Atoin Meto setzte den außer Betrieb gesetzten Verstorbenen wieder in Betrieb. Das Ritual sicherte ihm einen Platz im Raum der Lebenden. In seiner Funktion als Nachbar von der anderen Seite beherrschte der Ahn die Gesellschaft. Diejenigen, die den Fluss überschreiten, repräsentieren die Kontinuität und den Fortbestand menschlichen Daseins. Die gesellschaftliche Existenz des Menschen ist nur ein Segment im Kreislauf des Lebens. Das Leben ist vergänglich mit den Menschen und ist unvergänglich mit den Ahnen, die an der einen wie an der anderen Seite partizipieren. In einem der Harfnerlieder des Neuen Reiches heißt es:

Feiere den Schönen Tag, werde dessen nicht müde!
Niemand nimmt mit sich, woran er gehangen,
niemand kehrt wieder, der einmal gegangen.

Ein größerer Gegensatz der Überzeugungen, die aus den Quellen des Alten Ägyptens und der Atoin Meto sprechen, ist kaum denkbar. Für den Dichter der zitierten Zeilen eines Harfnerlieds trennt der Tod den Menschen endgültig von seiner irdischen Existenz. Die Atoin Meto waren hingegen davon überzeugt, dass die Ahnen immer präsent sind. Und sie kamen zurück: in veränderter individueller Gestalt, als Menschen. In der Person eines Mediums, des Am uf oder Atoin amaf, äußerte sich die dramatische Spannung zwischen Leben und Tod. Die klaren Gesichter und die hellen Augen repräsentierten durch die Sicherung der Nachkommenschaft die gesellschaftliche Existenz des Menschen. Sie waren der Ursprung der dem Tage ausgelieferten Verrotzten und Verheulten, die ihren Mitmenschen auf dem Weg und zur Türe des Todes geleiteten. Aber nicht nur in der Vergangenheit kam dem Totenritual der Atoin Meto die Funktion zu, die gemeinschaftliche Ordnung zu harmonisieren, die durch die Konfrontation mit dem Tod gestört wurde. Die Leere, die der Verstorbene hinterließ, wurde mit der Bitte an die Ahnen symbolisch geschlossen. Erst dann konnte er zum Ahn werden, der sich in einer, der menschlichen Lebenswelt nebengeordneten Realität aufhielt.

Das Totenritual der Atoin Meto zwischen Adat und Christentum

Die Überzeugungen, die mit der Metaphorik der Verrotzten und Verheulten und der Klargesichtigen und Helläugigen verbunden sind, haben ihre Gültigkeit im christlichen Amanuban verloren. Ihre ursprüngliche Bedeutung konnte dem Hegemonieanspruch christlicher Dogmen nicht widerstehen. Sinnentleerte Versatzstücke einer mündlichen Dichtung, die im Umfeld christlichen Gedankenguts und einer religiösen Neuorientierung eine Re-Interpretation erfahren haben, blieben zurück. Die Klargesichtigen und die Helläugigen, die einstigen Garanten des Lebens, wurden ins Reich der Phantasie vertrieben. Allein und verlassen blieben die Verrotzten und Verheulten zurück. Die Rede von Lukas Banamtuan bildet nur einen Beleg für den fast vollzogenen Wandel autochthoner Überzeugungen.
Christlich geprägt gewann die Auslegung der Metapher von den Klargesichtigen und Helläugigen ein neues, profanes Profil. Die weitgehendste Reduzierung der Bedeutung dieser Metapher, eigentlich eine Verfälschung, wurde im Februar 1992 in Niki Niki Un (Zentral-Amanuban) vorgetragen. In einem der Nachrufe komponierte der Redner die folgenden Verse:

. . . den Rotz der Nase zurückhalten, die Tränen abwischen . . .
. . . dein Gesicht ist wieder heiter, deine Augen sind wieder rein . . .
. . . dein Gesicht ist wieder hell, deine Augen sind wieder klar . . .

Obwohl das klassische Arrangement der Verse erhalten blieb, sind die ursprünglichen Elemente der metaphorischen Rede, Rotz und Tränen sowie helle Gesichter und klare Augen, nur scheinbar vorhanden. Die Sprache und die Bedeutung dieser Verse ist nicht mehr dieselbe wie früher. Die Teilnehmer des Totenrituals, die Verrotzten und Verheulten in Vers 28, durch die Entäußerung ihrer Trauer und durch die im Totenritual erfahrbare Gemeinsamkeit getröstet, erhalten ihre strahlenden Gesichter zurück. Sie sind die modernen Klargesichtigen und Helläugigen. Die isolierte Metaphorik von den Verrotzten und Verheulten enthält nur die halbe Wahrheit. Sie verletzt nicht nur das Recht der Ahnen zur Teilnahme am Ritual, sie verletzt auch die kanonische Form der rituellen Rede. Die von Lukas Banamtuan gewählte Formulierung, die Verrotzten und Verheulten, bildet deshalb nur den halben Vers. Authentische Tonis-Verse bestehen aus Grund- und Variationsvers, ein syntaktisches und semantisches Geflecht, das sich gegenseitig stützt und intensiviert. Die Verrotzten und Verheulten, das ist der Grundvers, der seine Bedeutung nur durch den Variationsvers, die Klargesichtigen und Helläugigen, voll entfalten kann. Nur gemeinsam beschwören die beiden Halbverse die Kultgemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen.
Der ursprüngliche Vers pan pelo mat nu / hum miu mat miu hat sich in bit pelo ma` noes / hum meu mat knino gewandelt. Die Verrotzten und Verheulten verwandelten sich in den zurückgehaltenen Rotz und die abgewischten Tränen der Trauernden, gegen die ein Taschentuch hilft. In Bezug auf die Trauergemeinde, die lebenden Teilnehmer eines Totenrituals, hat sich die verwendete Metapher nur unerheblich geändert. Die Elimination der Ahnen, der verstorbenen Teilnehmer am Totenritual, ist viel vollkommener. Die Verfälschung der Klargesichtigen und Helläugigen in die getrösteten, wieder heiteren Gesichter und klaren Augen der Trauernden ist unwiederruflich. Alles ist anders: Die modernen Totenrituale führen die Lebenden in eigener Verantwortung und Regie durch. Wer weiß schon, ob die Ahnen anwesend sind, ob sie sich unter die Trauernden im Lopo mischen, oder ob sie das Geschehen heimlich und aus der Ferne beobachten. Möglicherweise dienen die rezent verwendeten Metaphern nur der Verschleierung überlieferter Überzeugungen und Sachverhalte in einer Zeit, in der das Bekenntnis zur alten Religion der Atoin Meto gleichbedeutend ist mit einer Diffamierung als Heide und Animist sowie dem Ausschluss von sozialer Mobilität und Chancengleichheit. Im modernen Indonesien lautet das politische und religiöse Programm von Staat und Kirche Agama (Religion im Sinne des Monotheismus) contra Kepercayaan (Überzeugung im Sinne ethnischer Religiosität). Allein der sensible Beobachter spürt die Anwesenheit der Ahnen auch ohne den Hinweis auf ihre klaren Gesichter. Geschickt bezieht Lukas Banamtuan die Vorfahren von Felipus Lanu` in seine Rede ein, wenn er die trauernden Töchter des Verstorbenen mit den Ehrennamen (akun) Kefi und Timo anspricht, mit Namen also, die zu den Hinterlassenschaften der Ahnen gehören.

In seiner Geschichte des Todes hat Phillip Aries den Zerfall des sozialen Sterbemusters geschildert. In Amanuban ist der Tod trotz allem noch immer ein soziales Ereignis. Durch den Verfall der Trauerriten, so argumentiert der Autor, wird die Trauer zunehmend individualisiert und verinnerlicht. Hand in Hand mit der Individualisierung der Gefühle wird der Tod so gestaltet, dass man kaum noch etwas von ihm bemerkt. Die Auslagerung des Sterbens und die anti-soziale Gestaltung des Todes vermeiden affektives Betroffensein und leibliches Spüren: Sterben, das tun die anderen, gestorben wird an anonymen Orten, nicht länger im Kreis der Familie oder zu Hause. Das soziale Ereignis Tod ist ins Krankenhaus verlagert worden. Die Familie delegiert das Sterben, die Beerdigung und die Organisation der Trauerfeierlichkeiten an Spezialisten, Dienstleistungsbetriebe und eines Tages vielleicht an gewerbsmäßig Trauernde. Es bleibt die Frage, ob der Tod verleugnet und vertuscht wird, um sich selbst zu schonen oder um Rücksicht auf den Verstorbenen zu nehmen.

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