Sonntag, 7. Juli 2019

Einstimmung


Ich glaube, dass der Ethnologe ehrlicher und zugleich auch wissenschaftlicher handelt, der diese Aspekte mitreflektiert, statt den letztlich fruchtlosen Versuch zu unternehmen, für die wissenschaftliche Öffentlichkeit sorgfältig das Intersubjektive aus dem Subjektiven und dieses Verfahren dann durch Totschweigen ungeschehen zu machen, nur um sich und den Lesern die Illusion reiner Wissenschaftlichkeit zu gönnen.
Justus Stagl

Amanuban Mon Amour öffnet den Blick auf ein hierzulande weitgehend unbekanntes Land, auf ein fernes Land, in dem die Menschen eine farbenprächtige Kleidung tragen, mich an ihrem Leben teilnehmen ließen und zum Betelessen verführten. Menschen, die in Versen von ihrer Vergangenheit erzählten. Ich war zuhause bei Menschen, die zwischen den Zeiten lebten, die in mehreren Identitäten zuhause waren, traditionell bleiben wollten und modern sein mussten, um im westlich gewordenen Indonesien nicht abgehängt zu werden.
Meine Forschungen zur Kultur der Atoin Meto Amanubans habe ich in bisher drei Schritten - als Printversion oder Weblog - publiziert:

Amanuban Mon Amour versammelt alle Splitter und Fragmente, die an keiner anderen Stelle ihren Platz gefunden haben. All das Wissen, das ich erworben habe, das aus den unterschiedlichsten Gründen fragmentarisch blieb. Jeder, der forscht, kennt das Phänomen, denn das Ganze ist immer mehr, als die Summe seiner Teile, und was letzten Endes publizierbar ist, hängt viel zu oft von universitären Trends und finanziellen Gegebenheiten ab. Das heißt nicht, dass diese Splitter unwichtig oder unbedeutend sind. Ganz im Gegenteil: Sie stellen Anreize für weitere Forschungen dar, enthalten manches unbekannte Detail oder erzählen da weiter, wo die wissenschaftliche Analyse vorerst enden musste. Sie bewahren viele meiner Eindrücke und Erfahrungen der Jahre in Amanuban, ein Gemenge an Informationen. Begegnungen, Umstände, Gegebenheiten bildeten den Hintergrund meiner Forschungen in Amanuban. Und insbesondere versammeln sie meine Erinnerungen, die ich mit nach Hause brachte.

Einem Wirbel von Geschichten zuzuhören, schreibt Anna Lowenhaupt Tsing, und sie zu erzählen kann man als Methode bezeichnen. Und warum nicht die starke Behauptung aufstellen und das ganze Wissenschaft nennen, eine Ergänzung des Wissens? Die Erzählung von ethnologischen Begegnungen und von den Erzählungen, die sie produzieren. Eine unauflösbare Mischung subjektiver Sachverhalte und der Versuch, sie in faktisches Wissen zu verwandeln. Der Unterschied zwischen Erinnerung und Gedächtnis besteht darin, dass Erinnerungen eine bestimmte Bedeutung für eine Person, eine soziale Gruppe oder eine Ethnie besitzen. Walter Benjamin verdanke ich die Vorstellung, das Erinnerungen einem Tigersprung ins Vergangene gleichen, Geschichte, wie sie in einem Augenblick der Gefahr aufblitzt. Denn Erinnerungen, das weiß jeder, sind von dreierlei Qualität: erfreulich und angenehm, neutral und emotional ungefärbt oder schmerzhaft und unerwünscht. Was sich jeweils ins Bewusstsein drängt, oder der Verdrängung anheimfällt, wer entscheidet das schon selbst. Als erinnerungswert markiert sind insbesondere diejenigen, die emotional besetzt, und als erlebtes Gefühl gespeichert sind. Das Gedächtnis wiederum ist ein Transitbereich, in dem sich die Aktualität mentaler Prozesse spiegelt. Erinnerungen sind Bestandteil der personalen Identität, Gedächtnis ein kollektives, kulturelles Phänomen. Eine besondere Gruppe von erinnerungsfähigen Erlebnissen repräsentiert vergangene Ereignisse, die sich noch in der Gegenwart auf das Leben der Betroffenen auswirken. Diese Erinnerungen enthalten auch Informationen darüber, was ein Individuum oder eine Kultur im tiefsten Inneren ausmacht; kollektiv sowie individuell. Eine besondere Eigenschaft von Erinnerungen besteht darin, dass sie nicht bewusst hervorgerufen werden können. Ihre Inhalte grenzen ans Unbewusste, und tauchen oft dann auf, wenn sie am wenigsten erwartet werden. Erinnerungen benötigen einen Auslöser, der sie hervorruft.
Die Rekonstruktion kulturell relevanter Erinnerungen ist in Amanuban das Fachgebiet des Mafefa, desjenigen politischen Funktionsträgers, der den Mund besitzt rituell zu sprechen. Er ist Sprecher und Ratgeber in sozialen und historischen Belangen, eine politische Institution, das angesehene Amt eines Spezialisten mit besonderem Wissen und Kompetenzen. Er ist der Redner in den Ritualen der Landwirtschaft und des Lebenszyklus. Er liefert den historischen Kit, der die Gemeinschaften - Lineage, Clan und politische Organisation - zusammenhält. Er beherrscht die formalisierte Sprache der rituellen Rede (tonis), in der er über die Ereignisse der Vergangenheit spricht. Er spricht natoni, wie man in Amanuban respektvoll sagt. Das Register dieser modellhaften Sprache enthält zahlreiche Formeln für die geredeten Dichtungen der Atoin Meto, kodierte Erinnerungen, die die Dichter-Sprecher spontan und aus dem Stegreif komponieren. Spontan improvisierte Langzeilen aus Grund- und Variationsvers, grammatisch und semantisch parallel. Sie rezitieren nicht, sondern sind einer Versbildungstechnik verpflichtet, die es ihnen ermöglicht, Überlieferungen in eine stabile, überlieferbare Form zu gießen. Im westlichen Verständnis bedeutet Mafefa sein, einen Beruf ausüben. Es gibt noch den Atonis, der ein Autodidakt ist, eine in Fragen kultureller Adat kompetente, wissende Persönlichkeit. Ein Atonis kann potentiell jeder sein, ein Mafefa nicht.
Die islamische, autoritäre und zentralistische politische Organisation der herrschenden Klasse Javas hat die indigenen Überlieferungen der peripheren Ethnien des Archipels, ihre Erinnerungen, gebannt, als primitiv und heidnisch diffamiert. Wer in Amanuban in dem Ruf steht, Heide oder Animist zu sein, wird marginalisiert und ist von sozialer Mobilität ausgeschlossen, die ihm die Teilhabe an der modernen Welt verschließt: Ausbildung, Gesundheitsvorsorge und Wohlstand, Qualitäten, die eine Existenzsicherung unter globaler kapitalistischer Doktrin ermöglichen. Die Überlieferung der kulturellen Überzeugungen der Atoin Meto muss der Mafefa im kulturellen Untergrund bewerkstelligen. Der von oben organisierte, kulturelle Ausverkauf findet inzwischen auf touristischen Veranstaltungen statt, wie beispielsweise 2019 auf dem Pah Meto Tourist and Cultural Attraction Festival im Rumah Budaya Atoni, dem Atonikulturhaus in Soë.

Datenmaterial meiner Feldforschung in Amanuban, Westtimor (1989 - 1992), habe ich bereits in Atoin Meto Reloaded online publiziert. Amanuban Mon Amour gehört in diesen Kontext und ist ein mehr autobiographisch-wissenschaftliches Projekt der Präsentation meiner ethnologischer Forschung, ein Wirbel von Geschichten. Insbesondere liegt mir daran, dass Subjektive der gesammelten Daten nicht zu verschleiern, vielmehr meinen eigenen Anteil an diesem Prozess mit zu reflektieren. All die Neugier und alles Staunen, die Freundschaften und das Glück der Begegnung sowie die Erfolge in der Arbeit, die Hindernisse und Anfeindungen, aber auch die Irrtümer, das Scheitern und die Enttäuschungen liegen mir gleichermaßen am Herzen. Sie sind das Thema meiner Erinnerungen. Ich will eine Erzählung meiner Forschung in Amanuban versuchen, die den Prozess der Feldforschung schildert, ohne mich selbst aus dem Geschehen auszublenden. Ich beanspruche keine Objektivität, nicht einmal Eindeutigkeit. Immerhin war mein Aufenthalt in Amanuban ein prekärer, von Unbestimmtheit geprägt. Amanuban Mon Amour handelt daher von selektiven Tatsachen und individuellen Wahrheiten, reflektiert im Nachhinein und entwirft ein faktisches Narrativ, das auch Fiktionen aushalten kann. Der Anspruch objektiver Wissenschaft ist gescheitert, wenn sich der Beobachter nicht aus der beobachteten Situation suspendieren kann. Er ist beides: Teilnehmer und Beobachter, Subjekt und Objekt einer gemeinsamen Situation, die er entwirft, mitgestaltet und interpretiert. Die zentrale Methode der Ethnologie, die teilnehmende Beobachtung, ein Paradoxon, eigentlich ein Dilemma, berücksichtigt diesen Zusammenhang. Ich will diese paradoxe Situation nicht beschönigen, mich ihr aussetzen und sie ernst nehmen; wissenschaftliche Haltung der Jahrtausendwende. Mein Erzählen beansprucht nicht mehr zu sein, als etwas von mir Gemachtes, von Anderen nicht Wiederholbares und auch nicht Überprüfbares, da niemand außer mir zur gleichen Zeit am gleichen Ort gelebt, gedacht und empfunden hat. Texte als authentische Originale, die mich genauso wiedergeben wie die Kultur der Atoin Meto, in der sie entstanden sind, in der ich mich eine Zeit lang aufgehalten habe. Amanuban Mon Amour wird über Monate fragmentarisch bleiben, da ich noch nicht absehen kann, wohin mich meine Spurensuche führen wird. Die einzelnen Blogbeiträge veröffentliche ich sukzessive online. Ich überlasse es dem Leser, zu lesen, was ihn interessiert, und welche Reihenfolge er auswählt. Wer mir aber kontinuierlich folgen will, meinen Prozess mit steigendem Interesse begleitet, dem mute ich Geduld und Ausdauer zu.

Amanuban Mon Amour ist den Atoin Meto in Amanuban gewidmet, all den Männern und Frauen, die mich unterstützt und begleitet haben, denen ich die unterschiedlichsten Eindrücke in ihre Lebensweise und ihre Überzeugungen verdanke, die mich an ihren Hoffnungen und Ängsten teilnehmen ließen. Auch denen, die mir Steine in den Weg legten, und so meinen Widerspruch und meine Motivation förderten. Ich habe von allen gelernt, und möchte Treuhänder des Gelernten sein, der Erinnerungen, in denen sich diese Zeit und diese Menschen spiegeln. Ich hoffe sehr, ihnen gerecht zu werden, auch wenn ich ihre Kultur nur subjektiv und fragmentarisch schildern kann. Doch wann wäre das jemals anders gewesen? Mögen andere sich auf den Weg machen, die Lücken schließen und meine Fehler korrigieren.

Amanuban Mon Amour berichtet von meiner Begegnung mit einer Kultur und deren Protagonisten, die noch Anfang des 20. Jahrhunderts nichts von Humanismus und Demokratie wussten, einer Kultur, die inzwischen verzweifelt versucht, ihre ethnische Identität zu bewahren. Um beinahe jeden Preis! Ihre mündlichen Überlieferungen habe ich in meinem Weblog Seine Rede ist nicht irgendeine bearbeitet zusammengestellt. Ich bin aufgebrochen, um die Söhne und Töchter von Kopfjägern zu treffen, inspiriert von Berichten über eine Kultur, fasziniert von Erlebnissen in einer Kultur, die für mich alles bis dahin Gewesene in den Schatten stellte. Es heißt, dass Reisen bildet, und dass niemand unverändert von einer Reise zurückkehren kann. Ich wünsche allen meinen Leser den Gewinn dieser fundamentalen Erfahrung.

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