Donnerstag, 13. August 2020

Biographie und ethnologische Begegnung


Unter Biographie verstehe ich die diachrone Beschreibung eines Lebens, die auf einen bestimmten Stimulus hin und auf ein Gegenüber produziert wird. Biographische Texte sind ein Produkt von Interaktion. Aus diesen Grund sind sie alles andere als quantifizierbare Wirklichkeit. Deshalb bestehen biographische Informationen, von wem auch immer

  • aus einem Konglomerat von erinnerten, als markant  gewerteten Ereignissen eines Lebenslaufs, auf die  Ereignisse, auf die ein Leben kondensiert;
  • aus einer Ko-Produktion der Interaktion von Erzähler und Zuhörer, wobei jeder an der Entstehung dieser bestimmten Biographie, die jeweils erzählt wird, einen Anteil hat;
  • aus einer abschließende Auswertung und Interpretation der produzierten biographischen Texte durch den Zuhörer.

In seiner Philosophie geht es Hermann Diltheys um die Erfassung des ganzen Menschen, die ihn aus seiner in Laboratoriumssituation und naturwissenschaftlichem Verfahren reduzierten Existenz befreien will. Unter diesem Leitmotiv versteht er die Betrachtung des Gesamtzusammenhangs menschlichen Lebens, den andere methodische Ansätze, die nur einzelne Aspekte des menschlichen Lebens betrachten, vernachlässigen. Ein hoher, wenn auch geerechtfertigter Ansatz, den ich in den fragmentarischen biographischen Splittern der homophilen Weber, von Abraham Sakan oder Simon Petrus Banamtuan nicht leisten will. Insofern erhebe ich keinen Anspruch auf die Erhebung einer Gesamtbiographie oder auf die Re-Produktion vergangener faktischer Wirklichkeiten. Es geht mir vielmehr um eine Auseinandersetzung mit meiner subjektiven Befindlichkeit hinsichtlich bestimmter Ereignisse der Begegnung. Diese erachte ich allerdings als markant, für den Ethnologen und seinen Informanten, da sie soziale und psychische Auswirkungen auf beider Leben erlangt. Meine Versuche biographischen Schreibens im Rahmen einer ethnologischen Begegnung verstehe ich als Fragmente dessen, was Leben in Amanuban bedeuten kann.
Für Dilthey bietet die Biographie eine Möglichkeit Einsicht in die individuelle Sinnhaftigkeit zu gewinnen. Jedes Leben, so schreibt er, hat einen eigenen Sinn. Er liegt in einem Bedeutungszusammenhang, in welchem jede erinnerbare Gegenwart einen Eigenwert besitzt, doch zugleich im Zusammenhang der Erinnerung, der eine Beziehung zu einem Sinn des Ganzen hat. Dieser Sinn des individuellen Daseins ist singulär, dem Erkennen auflösbar und er repräsentiert doch in seiner Art, wie eine Monade von Leibnitz, das geschichtliche Universum. Deshalb geben selbst biographische Splitter, die sich aus einer Face to Face-Kommunikation der unmittelbaren Begegnung ergeben, lebhafte Eindrücke individueller Gegenwart.
Biographie ist die diachrone Beschreibung eines Lebens, das sich auf einen bestimmten Stimulus hin und auf ein Gegenüber gestaltet. Aus diesem Grund entstehen biographische Texte als Produkt der Interaktion in der unmittelbaren Begegnung. Sie sind keine quantifizierbare Wirklichkeit, sondern subjektive Ko-Produktion der Interaktion von Erzähler und Zuhörer, wobei jeder an der Entstehung einen bestimmbaren Anteil hat. Sie sind, wie jeder andere Text auch, etwas Gemachtes, zuletzt vielleicht sogar Fiktives, ein Konglomerat von erinnerten markant gewerteten Ereignissen eines Lebenslaufs.

Nur die markanten Ereignisse einer ethnologischen Begegnung bleiben auf Dauer Gegenstand der Erinnerung: von Subjektivität geprägte, reproduzierbare Einheiten. In diesem vagen Umfeld psychischer Eindrücke bilden Erzählanstöße das methodische Mittel, biographisch relevante Ereignisse in die Erinnerung zu heben, um sie erzählbar zu machen. Die in einigen meiner Weblogs thematisierten ethnologischen Begegnungen beziehen sich auf einzelne solcher Erzähleinheiten als Teile einer Gesamtbiographie. Diese relevanten Ereignisse stufe ich als markant und charakteristisch ein. Für den Erzähler biographischer Splitter sind die Ereignisse eines Lebens markant, die sich durch spontane Erzählanstöße reproduzieren lassen, ähnlich einem psychoanalytischen Setting, dass freie Assoziation als Methode nutzt, um psychisches Material in die Erinnerung zu heben. Niemand behauptet allerdings, dass auf diese Weise faktische Wirklichkeit entsteht. Erinnerte, subjektive Erfahrung und Reflexion verwandelt sich in Biographie, in eine Textsorte, die der Interpretation durch Vor-Verständnis zugänglich ist.
Um biographische Relevanz nicht von der Willkür des Fragenden abhängig zu machen, ist es erforderlich, Erzählanstöße zu provozieren und den Erzähler selbst die für ihn markanten Ereignisse auswählen zu lassen. Die Auswahl von markanten Ereignissen entsteht erst vor dem Hintergrund meiner speziellen Forschungsinteressen. Gemeinsam werden sie im Spannungsfeld konvergierender Interessen in der ethnographischen Begegnung zwischen mir und dem Erzähler ausgehandelt. Metaperspektivisch geht es mir dabei immer um den persönlichen und kulturellen Hintergrund von Männern in Amanuban. Es handelt sich beispielsweise um ein markantes Ereignis, wenn ein Mann in einer männlich dominierten Gesellschaft, wie der der Atoin Meto, eine weibliche Indentität annimmt, die ihn der Männerwelt im allgemeinen entfremdet. Gleiches betrifft auch einen Mann wie Abraham Sakan, dem Bauer mit Abitur, der sich dem westlichen Ethnologen als Führer durch seine Kultur verschreibt oder Simon Petrus Banamtuan, dem Yogin im Hinterwald, auf seinem Zickzackkurs zwischen zwei religösen Systemen. Immer handelt es sich um Ereignisse mit großer Relevanz für die persönliche Entwicklung und die ethnologische Begegnung. Der Eintritt eines Mannes in die Welt des Fremden, der Geister oder der Frauen, ist in der Tat ein Ereignis von außergewöhnlich großer biographischer Bedeutung. Die Spannung zwischen der Perspekitve des persönlichen Erlebens von Kultur und der Kenntnis der kulturellen Verhältnisse stehen im Mittelpunkt dieser biographischen Beschreibungen.
Was erzählt und ausgewählt entscheidet sich auf zweierlei Weise: durch die vorformulierte Erzählanstöße auf der Basis eines ethnologischen Vor-Verständnisses sowie durch die spontane Produktion von biographischer Ereignisse in Form freier Assoziationen. In der ethnologischen Begegnung überlagern sich diese beiden Aspekte. Im Gespräch und im gemeinsamen Erleben entstehen mannigfaltig Erzählanstöße, angeregt durch Fragen und Antworten, durch Erinnerungen, spontan ausgelöst in freier Assoziation.

Ethnologische Begegnung meint die Begegnung zwischen Ethnologe und Informant im Rahmen einer Feldforschung als gemeinsamer Situation. Ethnologische Begegnung fokussiert auf die Qualität der Begegnung, und weniger auf die empirische Situation faktischer Datenerhebung. Eine ethnologische Begegnung ist auf jede Weise einzigartig und nicht wiederholbar. Die besonderen Bedingungen dieser Begegnung beeinflussen die Produktion biographischer Texte und garantieren Subjektivität und Orginalität dieser Interaktionssituation. Im Sinne Diltheys ist ethnologische Begegnung das, was durchlebt worden ist: Leben als Erleben, Erinnerung als Reflexion. Im biographischen Erzählen wird der einstige Alltag ausgepresst, Selbst-Darstellung wird zur Performance, zum geeigneteb Abschluss des Erlebten. Als durchlebtes Leben wird biographische Textproduktion kulturelle Darstellung, inszeniert sich Kultur als Ensemble ausgedrückten Erlebens, wie ich an anderer Stelle in meinem Weblog Kultur als Theater darstellen werde. Biographische Textproduktionen ist ein literarisches Kunstwerk, das sich von politischem Erlebens unterscheidet, weil es nur die authentischen Momente des Erlebens fokussiert. Erst dann können Leser, Betrachter oder Zuhörer darüber nachdenken, weil, wie Dilthey es ausdrückt, sich Erleben als Durchleben, Erinnern, einer Abfolge von markanten Ereignissen inszeniert. Im individuellen Erleben bekommen diese Ereignisse die Bedeutung einer Reise, der Prüfung des eigenen Selbst, von rituellen Übergängen oder einer Pilgerfahrt, einem sozialen Drama wie es Victor Turner versteht, Momente kreativer Rückbesinnung. Nachgeholte Erinnerung wird zur Wiederholung von Erlebtem. Dem ursprünglichen, markanten Ereignis wächst in der subjektiven Darstellung als Erinnerung Bedeutung zu. Der biographsiche Text erhält so seine angemessene ästheriche Form. Diese Form der Begegnung erklärt nicht nur den Ethnologen, sondern verhilft auch zu einem Verständnis des kulturellen So-Seins, den Informanten in seinem Wirklichkeits-Erleben besser zu verstehen. Sie ermöglicht es, kulturelle Erfahrungen in der geteilten Erfahrung der ethnologischen Begegnung auszutauschen.

Fünf Thesen: Ein Exkurs

These 1
Die von Ethnologen produzierten Monographien handeln größtenteils von Kultur als Abstraktion oder: Ethnologische Monographien sind synthetische Produkte, die in den Köpfen von Ethnologen entstehen, die Erfahrungen, Kenntnisse und Urteile einer kleinen Zahl von Individuen zu einer Idealvorstellung von Kultur amalgamieren.

These 2
Die verpönte Akzeptanz des Subjektiven in der wissenschaftlichen Forschung führt zu Monographien, die

  • das Individuum als subjektive Variation seiner Kultur in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken;
  • die Interaktion des Kulturteilnehmers mit dem Ethnologen als Untersuchungsinstrument ernst zu  nehmen;
  • die ethnologische Begegnung und deren Analyse konsequenzlos zum eigentlichen  Untersuchungsgegenstand anerkennen.

These 3
Kultur ist ein dynamisches Gebilde, das von ihren Teilnehmern repräsentiert wird, die diese individuell oder kollektiv [re-]produzieren. Diese These beinhaltet die Überzeugung, dass Kultur durch Individuen handelnd dargestellt und gleichzeitig produziert wird. Die individuelle Darstellung oder Produktion von Kultur dient der Existenzsicherung sowie der Evokation, Legitimation und Veränderung von Kultur. Kultur ist das Theater auf der Bühne der Welt.

These 4
Die einseitige Beschreibung von Kultur als Ideal übersieht diese Gestaltungskraft des Individuums. Sie ist nicht dazu im Stande, die subjektive Betroffenheit von Kultur zu erfassen.

These 5
Die Biographie eines Menschen ist der Spiegel seiner subjektiven Betroffenheit durch Kultur. Somit wird die Darstellung biographischer Details zum Mittel, die Konfrontation des Individuums mit seiner Kultur zu erfassen und diese als subjektive Kulturbeschreibung der herkömmlichen ethnographischen Monographie gegenüberzustellen.


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