Im Zweilicht der kurzen Dämmerung der Tropen hält ein großer Überlandbus aus Kupang in Oebesa. Die vierstündige Fahrt von Kupang herauf war anstrengend, der Bus bis auf den letzten Platz besetzt. Im Gang waren die Notsitze ausgeklappt, Säcke, Taschen und an den Beinen gefesseltes Geflügel verstopfte die letzten freien Stellen. Unter die linke vordere Sitzbank hatte jemand mitleidlos ein Schwein geklemmt, dessen ängstliches Grunzen schwer zu ertragen war. Auf dem Dach des Busses sah es nicht viel besser aus. Die meisten Fenster fehlten, die übriggebliebenen und die beiden Türen standen offen. Ich saß fröstelnd im Fahrtwind, das Hemd noch feucht von der schwülen Luft der Ebene, die auch Nachts anhielt. Erst als der Bus an Höhe gewann, wurde es kühler. Den einheimischen Passagieren ging es nicht besser. Sie hüllten sich in ihre farbenprächtigen Tücher und blickten stoisch in die Nacht. An der hinteren Tür hatte es sich der Schaffner bequem gemacht, ein junger Mann, der in jedem Ort aus der Tür hing, und den Passanten die Fahrtroute zurief.
Unser neues Heim liegt am östlichen Rand
von Soë, einer Kleinstadt in Westamanuban und Provinzhauptstadt von
Südzentraltimor. Nur ein paar Schritte von der Straße entfernt, steht ein flacher,
langgestreckter Bungalow aus Beton, ein modernes Rumah sehat, aus dessen großem Fenster gedämpftes Licht nach
draußen dringt. Das mit rostendem Wellblech gedeckte Dach kragt an der
Straßenseite über eine schmale Terrasse, auf der die Schatten der Sträucher und
Bäume im Scheinwerferkegel miteinander tanzen.
Das Motorengeräusch des haltenden Fahrzeugs lockt
einen alten, gebeugt gehenden Mann aus dem Haus, der sich schwer auf die Schulter
eines halbwüchsigen Jungen stützt. Im gleichen Moment heben zwei braune Arme
ein kleines weißes Mädchen mit blonden Haaren aus den Bus, die im fahlen Licht
einer Straßenlaterne matt schimmern, und stellen es auf den Kiesweg, der zum
Haus führt. Ängstlich blickt es sich um, doch als ein Mann und eine Frau
mittleren Alters aus dem Führerhaus klettern, scheint es beruhigt. Der Mann hebt das
Kind hoch, setzt es sich auf Hüfte, und streicht ihm sanft über den Kopf.
Dann geht er auf das ungleiche Paar zu, während sich die Frau noch um das
Gepäck kümmert. Die wenigen Habseligkeiten sind schnell ausgeladen. Der
Busfahrer schlägt die Tür hinter sich zu und fährt den Wagen zurück auf die
Straße, weiter nach Niki Niki und Kefamenanu, ins entfernte Miomafo. Opa
Billik, stellt der Alte sich vor. Der Junge ist sein Enkel Frans. Er
führt die drei Besucher ins Haus und zeigt ihnen die Räume. Zwei große Zimmer
sind mit einigen Möbeln karg eingerichtet. Sie dienen als Wohnbereich und für
den Empfang der Gäste. Eine Schlafkammer mit großem Bett, auf dem eine
durchgelegene Matratze liegt, die mit Kapokfasern gefüllt ist. Dazu noch ein
kleines, leeres Zimmer. Ein Verschlag mit Tisch und Wassertonne; das soll die
Küche sein. Nebenan ein Bad von dessen feuchten Wänden der Lack abblättert; ein gemauertes, ein Meter tiefes Wasserbecken und ein Hockclosett. Strom gibt es, fließendes Wasser nicht. Unser neues Zuhause. Als alle Formalitäten
erledigt sind, die vereinbarte Miete auf dem Tisch liegt, ist das Haus für ein
Jahr unser. Bevor der alte Billik geht, weist er seinen Enkel an zu bleiben,
damit das kleine Mädchen nicht allein ist. Verstört lässt sich Frans in die
Hocke nieder, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und schaut mit vor Schreck
geweitetem Blick zu den Fremden auf, ohne ein Wort des Protests zu äußern. Ein
einzelnes Kind, ohne Gefährten, dass ist für Opa Billik unvorstellbar. Keine
Diskussion, sagt seine entschlossene Miene. Widerstrebend fügt sich Frans in sein Schicksal.
Ein paar Tage später bückt sich
Naomi Ladda Ton, und tritt unter dem herabhängenden Dach ihres Ume kbubu hinaus ins Freie; ein
fensterloses Haus wie ein überdimensionaler Bienenkorb.
Es ist noch früh am Morgen, aber die ersten Sonnenstrahlen blinzeln bereits
über die östliche Hügelkette. Sie ist aufgeregt, hat unruhig geschlafen, aber
genießt die ersten Sonnenstrahlen auf der Haut, die die Kühle der Nacht vertreiben. Heute ist ein
besonderer Tag, denn sie hat sich oben an der Landstraße verabredet, in dem
Haus, wo in der letzten Woche drei Fremde eingezogen sind, zwei
Erwachsene und ein kleines Mädchen, das aussieht wie die Puppen, die neuerdings
auf dem Pasar Lama verkauft werden. Aus Europa sollen sie kommen, und eine Zeitlang bleiben. Europa, eine Gegend irgendwo, ist für sie weiter entfernt als der Mond.
Von Deutschland hat sie gehört, aber vorstellen kann sie sich das Land
nicht. Nicht einmal im Traum. Einst war sie selbst eine Fremde. Sie wurde vor
zweiunddreißig Jahren in Rote geboren, einer Insel westlich von Timor. Sie ist eine Zugewanderte, keine Atoin Meto, wie sich die Menschen hier nennen, eine Migrantin. Als sie ein junges Mädchen war, schickten ihre Eltern sie zu Verwandten
nach Kupang, wo sie im Haushalt helfen sollte; bis sie eines Tages ihren Mann
traf und heiratete. Erst vor kurzem sind sie nach Oebesa gezogen, und dabei, sich ein Zuhause
einzurichten. Ihr Mann hat noch keine Arbeit gefunden, mit der er Geld verdienen
kann, und seine Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Jetzt versucht er, dem kargen
Boden ihres Hausgartens Mais, Bohnen und Kürbis abzuringen, die
Grundnahrungsmittel für das kommende Jahr. Um zu überleben brauchen alle in
Amanuban ihre Hausgärten, denn an Bargeld zu kommen, ist genauso unzuverlässig,
wie die zeitige Ankunft des Monsuns. Geld verdienen nur die Händler und
die Beamten in der indonesischen Administration regelmäßig. Der Auftrag, der weißen
Frau das Weben am Gurtwebgerät beizubringen, kommt ihnen sehr gelegen. Aber sie,
eine Lehrerin? Bei dem Gedanken huscht ein flüchtiges Lächeln über ihre
sympathischen, ausgewogenen Gesichtszüge. Unter die Freude über den
unverhofften Auftrag mischt sich ein flaues Gefühl, das in ihrem Bauch
vibriert. Die Begegnung mit der fremden Frau hüllt sie in einen unheimlichen
Kokon ein, je mehr Gedanken ihr durch den Kopf gehen. Plötzlich fröstelt sie in
der warmen Morgensonne. In diesem Moment krabbelt ihre zweijährige Tochter aus dem Haus,
kriecht auf ihren Schoß und nestelt an ihrer Bluse, um an ihre Brust zu kommen.
Naomi nimmt das sabbernde Kind in den Arm und ihre ängstliche Stimmung
verfliegt. Kurz legt sie das Kind
an die Brust. Dann drückt sie der Kleinen einen der Maiskolben in die Hand, die sie
gestern weichgekocht hat. Zufrieden sitzt das Mädchen auf ihrem Oberschenkel
und knabbert schmatzend die Körner von dem Kolben.
Naomi lässt die Kleine bei ihrem Mann zurück und steigt den Hang hinauf zur Landstraße. Die Tür des Hauses auf der anderen Seite steht offen. Auf der Veranda toben ein paar Kinder. Mitten unter ihnen sieht sie zum ersten Mal das hellhäutige Mädchen mit den blonden Haaren, von dem alle sprechen. Es sitzt auf einem bunten Fahrzeug mit drei Rädern, das sie mit ihren Füßen vorwärts stößt, während eins der anderen Kinder von hinten anschiebt. Sie kann es immer noch nicht glauben; so helle Haare, eine so helle Haut. Einen Moment verharrt sie gegenüber auf der Stelle, und kann ihren Blick nicht von dem seltsamen Kind abwenden, das unbeschwert zwischen ihren braunen Spielgefährten herumtollt. Sie hat noch nie ein Kind gesehen, das so strahlt. Auf den Pasar Inpres, dem neuen Markt, kommt gelegentlich ein blonder Junge aus Niki Niki, dessen Eltern ihr überschüssiges Gemüse, Arekanüsse und Blätter vom Betelstrauch auf dem Boden ausgebreitet haben und auf Käufer warten. Sie erinnert sich daran, wie erstaunt sie war, als sie ihm zum ersten Mal begegnete. Er hatte auch diese hellen Haare, die hier alle rot nennen. Aber sie waren gekräuselt, nicht glatt, und der Junge hatte dieselbe dunkelbraune Haut wie sie. Aber dieses Mädchen, wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Plötzlich steht eine Frau in der Tür, deren lange, dunkelblonde Haare lose über ihre Schultern fallen. Sie ist mit einer weißen Bluse und einem blau-schwarzen Batikrock bekleidet, der ihr bis über die Knie reicht; an den Füßen die unvermeidlichen Plastiksandalen. Sie trägt ein Tablett mit Gläsern nach draußen und ruft den Kindern etwas zu. Diese versammeln sich um sie, als ob sie wissen, was sie erwartet. Anschließend zerstreuten sie sich wieder, jedes mit einem Keks und einem Glas Orangensaft in der Hand.
Naomi ist eine attraktive, schlanke Frau, hochgewachsen, mit glatter brauner Haut und tiefschwarzem, von Kokosöl glänzendem Haar. Das hat sie zu einem Knoten geschlungen, der in ihrem Nacken liegt und von einem Kugelschreiber an seinem Platz gehalten wird. Sie trägt einen gelb-braun gemusterten Sarong, darüber eine dieser Blusen, eine Mode, die aus Westindonesien importiert wurde, im satten Gelb einer Sonnenblume. Ihr Gang ist elegant, mit schwingenden Hüften, fast schwebend als sie die Straße überquert und auf das Haus zugeht. Ist das Glück? fragt sich Naomi, dieses leichte Gefühl, das ihr die Brust weitet. Der Tag ist vorüber und ihre innere Anspannung lässt langsam nach. Noch nie haben so viele eigenartige und widerstrebende Gefühle in ihr mit einander gerungen. Obwohl nichts davon zu sehen ist, beginnt an der Veranda eine andere Welt. Wäre sie auf der Straße an dem Haus vorbeigegangen, das helle Kind im Haus gewesen, sie hätte wahrscheinlich nichts Besonderes bemerkt. Sie kann auch jetzt nicht wirklich sagen, was in ihr vorgeht. Sie erinnert sich immer noch sehr deutlich an diese fremde Atmosphäre, die plötzlich in der Luft lag, als sie zögernd in der Türe stand. Ihr war, als würde ein weiterer Schritt genügen, um aus ihrer Welt zu fallen. Daran erinnert sie sich noch sehr genau, und jetzt, bei dem Gedanken daran, kribbelt ihr wieder der Bauch. Das unheimliche Gefühl, sich auf einmal in ihrer vertrauten Umgebung fremd zu fühlen, das sie am hellen Tag umgab, lässt sie wieder frösteln. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um ihrem Impuls, sich umzudrehen und wieder zu gehen, nicht zu folgen. Jetzt ist sie stolz auf sich, an die Tür geklopft zu haben, und eingetreten zu sein. Doch als der sonnengebräunte Mann auf sie zukam, ihr seine Hand entgegenstreckte, und sie in einem Indonesisch begrüßte, dass sie wegen seines starken Akzents kaum verstand, trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück und hielt ihre Hand bei sich. Wer weiß schon, über welche Kräfte ein solcher Mann verfügt? Was würde passieren, wenn er sie berührte? Hat er nicht seine Heimat verlassen und ist hierhergekommen? Sie kann das nicht verstehen, für sie wäre es unmöglich, so weit von zuhause wegzugehen, dass niemand mehr weiß, wo sie herkonmt. Die Weißen sind nicht wie sie. Sie sind anders, das spürt und sieht sie. So ein helles Kind. Gestern waren ihr solche Gedanken noch fremd. Sie schluckt hart, spürt, wie sie sich verkrampft. Vorsichtig berührt sie die ihr zugestreckte, warme Hand. Später sitzt sie mit ihm und seiner Frau auf dem harten Beton der Veranda, auf geflochtenen Matten, die tröstlich vertraut wirkten, und trinken Tee. Sie ist froh, nicht mit ihnen am Tisch auf einem Stuhl sitzen zu müssen, womit sie gerechnet hat. Es berührt sie eigenartig, zu sehen, wie sich diese beiden Fremden aus Deutschland neben ihr auf dem Boden niederlassen. Sie selbst besitzt zwei alte Holzstühle, die sie nur hervorholt, wenn ein Mitglied des Adels oder ein Beamter der Regierung zu Besuch kommen. Die sitzen dann auf dem Stuhl, während sie und ihr Mann neben ihm auf einer Matte zu seinen Füßen hocken und zu ihnen aufschauen.
Die weiße Nyonya interessiert sich für die Weberei in Amanuban, und sie soll ihr
die unterschiedlichen Webtechniken beibringen, ihr die Funktion der einzelnen
Teile des Webgeräts erläutern. Sie wusste das schon vorher, denn der alte
Billik, der ein Landsmann aus Rote ist, hat ihr das bereits gesagt. Vorsorglich hat
sie gestern die Holz- und Bambusteile für die verschiedenen Geräte hergestellt.
Nun warten sie bei ihr zu Hause auf ihren ersten Einsatz. Sie will der Frau die
Weberei vom Ursprung aus erklären, das hat sie sich vorgenommen. Alles hat irgendwo
einen Anfang, das muss auch die weiße Frau lernen, wenn sie den Weg des Webens
verstehen will. Vier Stunden soll sie jeden Vormittag kommen, um auf der
Veranda zu unterrichten. In der Öffentlichkeit.
Verschämt bedeckt sie mit ihrer
rechten Hand den Mund. Ihr Gefühl hat sie nicht getäuscht, die beiden Weißen
haben ein seltsames Benehmen. Aber ihr wird es in den nächsten Tagen schon
gelingen, die Frau davon zu überzeugen, dass es sich im Haus besser arbeiten
lässt. Das nimmt sie sich fest vor. Die ganze Zeit sitzt der Mann ernst und
schweigsam daneben, übersetzt, denn die Frau spricht kaum Indonesisch,
beobachtet was sie zeigt und sagt, und schreibt dabei ständig etwas in sein
Notizbuch. In welche eigenartige Situation ist sie nur geraten? Als sie geht
scheint es ihr, als seien die Weißen mit ihr zufrieden, aber sie hat nicht verstanden,
was der Mann zum Abschied zu ihr sagte. Die Frau versteht jedenfalls etwas vom Weben, denn die
fremde Technik hat sie trotz ihrer Sprachschwierigkeiten schnell begriffen. Sie
sitzt sicher nicht zum ersten Mal an einem Webgerät. Doch sie hat gespürt, dass
die weiße Frau genau so nervös und unsicher war, wie sie selbst. Das brachte
sie ihr näher. Aber die Anwesenheit eines Mannes bei der Arbeit von Frauen, das
hat sie schon gestört. Das gehört sich einfach nicht, ein Mann, der bei den
Frauen am Webgerät sitzt. Warum, dass wusste sie nicht, aber es war schon immer
so. Die Männer in Amanuban haben ihren eigenen Bereich, von dem sich die Frauen
fernhalten. Aber darüber muss sie schweigen, denn es war nicht ihr Haus, und
geht sie nichts an. Aber sie muss unbedingt mit dem alten Billik darüber reden.
Was mag der sich wohl gedacht haben, sie in eine solche Situation zu bringen.
Sie kann nichts daran ändern. Sie schämt sich. Und sie muss mit ihrem Mann
reden.
Einen Tag später ist Naomi
Lehrerin. Sie lehrt eine erwachsene Frau, was in Amanuban schon die kleinen Mädchen
lernen, es können, noch bevor sie in die Pubertät kommen. Dann bemerkt sie,
dass das nicht stimmt, nicht mehr stimmt, seit die moderne Zeit immer mehr Einfluss
in den Dörfer hat. Mit der weißen Frau wird sie keine Probleme haben; sie
mögen sich, dass hat sie sofort gespürt. Aber der Mann ist ihr unheimlich. Alle
diese Fragen, die eines gemeinsam haben: Wie war es früher? In der Schule und
in der Kirche hat sie gelernt, über früher
zu schweigen. Nur die Alten kümmern sich nicht darum. Sie weigern sich mit der Zeit zu gehen, und sprechen vom Verlust ihrer Kultur. Sie erzählen
manches Unbegreifliche, stoßen aber auch schnell an die Grenzen ihres Wissens. Sie stehen mit einem Bein in der alten Zeit, nach der der Mann aus
Deutschland fragt. Ob sie ihm davon erzählen? Sie glaubt es nicht.
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